Fluch der 100 Pforten
Und an deiner Hand und den Schnitten an deinem Bauch kann man erkennen, dass du alles andere als ein Bote bist.«
»Ich stamme von einem anderen Ort«, antwortete Henry. »In diesem Postamt gibt es einen Durchgang. Ich weiß zwar noch nicht, wie ich da hindurchkomme, aber ich muss es versuchen.«
»Das wissen wir schon«, sagte Nella. Ihr Blick war besorgt. »Du vergisst, dass wir den zweiten Blick haben. Aber dein Wandelkrampf ist noch nicht lange her. Deine Augen sind noch empfindlich und du bist an diese Art zu sehen nicht gewöhnt. Wir haben getan, was wir konnten, um dich zu kräftigen. Aber es gibt Dinge, die nur die Zeit heilen kann, und andere liegen sogar jenseits der Macht der Zeit.«
»Wie meinst du das?«, fragte Henry.
Nella reckte den Arm und berührte sein Gesicht. Sie ließ ihre Finger über seine Wangen gleiten und über seine älteren Brandwunden. Dann sah sie auf ihre Fingerspitzen und wieder in seine Augen. Sehr tief in seine Augen. Kurz darauf hatte Henry das Gefühl, dass sie gleich weinen würde.
»Du hast keinen Vater«, sagte sie. »Und keinen Namen. Hier bist du sicher. Wenn du gehst, wirst du auf einen alten Feind treffen, der Kraft anzieht wie ein gewaltiger Sog, und auf einen neuen Feind, der sich diese Kraft zunutze macht. Du spielst mit deinem Leben! Dein leiblicher Vater ist – ich sehe bloß ein Schwert, das ihm entgegenfliegt. Deine Mutter ist stark wie ein tief verwurzelter Baum, aber sie beugt sich unter einem Wind, der Steine zerschmettern kann. Augenblicke der Freude erwarten dich, aber jenseits von ihnen warten: Betrug, Angst, Wut und Grauen. Vertraue deinen Träumen! Deine Träume belügen dich nicht. Dort verschränken sich die Fasern. Mehr kann ich nicht lesen.«
Nella setzte sich auf und wischte sich die Augen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Henry. »Ich habe doch einen Namen«, fügte er hinzu.
»Du bist nicht getauft«, sagte Nella.
»Aber ich habe einen Namen!«
Ron hatte die Arme verschränkt. »Wir werden dir ein paar Kleider suchen«, sagte er. »Und dir etwas zu essen bringen. Wir wollen dir die Ruhe nicht weiter aufdrängen. Wenn du dir sicher bist, dass dein Pfad der Richtige ist, dann werden wir dir auf deinem Weg helfen.«
Henry stand auf und trat an die flache Brüstung heran. Ron stellte sich neben ihn. Henry sah hinab auf die Stadt im Dunst und dann wieder zu dem alten Mann. Sein Bart wehte in der sanften Brise.
»Diese Stadt haben meine Väter gebaut«, erklärte Ron. »Meine Aufgabe war es, sie zu schützen. Aber ich habe den Untergang nicht aufhalten können.« Er warf einen kurzen Blick zu Henry und sah dann wieder über das Tal. »Als Darius aufkreuzte, tat er mir leid. Er hatte sich verlaufen, war orientierungslos und ohne Halt. Immerzu sprach er von seiner Unzulänglichkeit und seinem Elend. Er flehte mich an, Vater zu mir sagen zu dürfen, und ich war dumm genug, ihm das zu erlauben. Dann kam er zu Kräften. Aber er lernte nie, sie sinnvoll einzusetzen. Er amüsierte sich über die Angst der anderen und verwechselte diese Angst mit Respekt. Aber nun ist er es, der in meiner Stadt das Sagen hat.« Er seufzte. »Ich werde dich nicht bemitleiden, Henry York. Mein Mitleid ist zerstörerisch.«
»Heißt du wirklich Ron?«, wollte Henry wissen.
Der alte Mann lachte. »Getauft bin ich auf den Namen Ronaldo Thomas Xavier Valpraise, siebter Sohn Justinians Valpraise, oberster Bürgermeister von Byzanthamum. Ich habe Hospitäler betrieben und mich als Architekt betätigt, war Vater
für Bettelkinder und Waisen. Nun sind meine Hospitäler zu Leichenschauhäusern und Fabriken geworden. Ich habe alle meine Kinder überlebt und meine Herrschaft hat eine Hölle aus Zauberei und Dunkelheit erschaffen. Warum bin ich am Leben geblieben? Vielleicht nur für diesen einen Moment, Henry York, in dem ich nach Jahren der Abwesenheit einmal wieder in der Stadt unterwegs bin und eine Sternschnuppe auffange, bevor sie in die Hölle fällt.« Er wandte sich Henry zu, sah ihm in die Augen und lächelte. »Bist du die Rettung meines Lebens?«
»Ich weiß nicht, wie du das meinst«, antwortete Henry. »Du hast mir doch das Leben gerettet.«
Ron schwieg.
Henry warf einen Blick über seine Schulter. Nella war verschwunden. Der Balkon war leer.
»Was hast du in der Stadt gemacht?«, wollte Henry wissen. »Und warum bin ich im genau richtigen Moment und genau auf die richtige Stelle gefallen?«
Mit einem Mal frischte der Wind auf, wirbelte um Henry herum und fuhr
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