Fluch der 100 Pforten
Straftat.« Sie spie das Wort aus wie ein Schimpfwort.
Der Polizist hatte keine Lust, sich mit ihr anzulegen. Die Frau war Anwältin und zu streiten, war ihr Beruf. Aber er konnte absolut nicht verstehen, wie man Leute der Entführung bezichtigen wollte, wenn gleichzeitig auch deren ganzes Haus verschwunden war, zusammen mit einem Polizisten samt Streifenwagen. Seiner Meinung nach waren Außerirdische die plausibelste Erklärung für all das. Auch wenn er selbst nicht an sie glaubte.
»Da wären wir«, sagte er und hielt den Wagen auf dem Randstreifen an. »Hier hat das Haus immer gestanden. Jedenfalls so lange ich auf der Welt bin.«
»Wer ist dieser Junge da?«, wollte die Frau wissen.
Der Polizist lehnte sich ein Stück vor und kniff die Augen zusammen. Die Frau hatte recht. Dort lief ein Junge herum, der sich den Krater ansah.
Die Frau zog ein Foto aus der Tasche, betrachtete es und blickte wieder auf. »Das ist Henry York.«
Sie öffnete die Tür und stieg aus.
»Henry!«, rief sie. »Bist du okay? Ich bin hier, um dich zurück nach Boston zu deiner Mutter zu bringen.«
Der Junge richtete sich auf.
»Dein Vater hat der Sorgerechtsregelung zugestimmt. Darum ging alles viel schneller, als wir erwartet haben. Komm, steig ins Auto.«
Sie stakste vorsichtig über den Hof. Der Junge drehte sich um und lief auf die gegenüberliegende Seite des Kraters. Er sah zuerst sie an, dann das Polizeiauto, und dann sprang er in die Höhe. Zeitgleich mit dem Sprung verschwand er.
»W…«, machte der Polizist.
Die Frau trippelte auf Zehenspitzen zum Kraterrand.
»Ich sehe ihn nicht mehr!«, rief sie. »Schnell, beeilen Sie sich! Er ertrinkt noch!«
Henry sah, wie sich die Rechtsanwältin auf ihren Stöckelschuhen durch das hohe Gras kämpfte. Daraufhin sprang er in die Abstellkammer und schloss die Tür.
Er wusste nicht genau, ob die Tür von außen sichtbar war,
darum schloss er sie lieber ab. Aber dann überlegte er es sich anders. Er öffnete die Tür einen Spalt breit und lauschte.
»Da unten ist er jedenfalls nicht«, hörte er eine Männerstimme. »Und falls doch: Das Wasser ist nicht tief genug, um darin zu ertrinken.«
»Ein Kind kann auch in fünf Zentimeter tiefem Wasser ertrinken«, gab die Frau zurück. »Wie wollen Sie sich die Sache denn sonst erklären? Ich habe genau gesehen, wie er gesprungen ist.«
»Und ich habe genau gesehen, dass er plötzlich unsichtbar war«, knurrte der Polizist. »Und tiefer als fünf Zentimeter ist das Wasser schon.«
»Genau meine Meinung, Sie Superhirn. Steigen Sie jetzt in dieses Loch hinunter, ja oder nein?«
»Nein.«
Henry zog leise die Tür zu und schob den Riegel vor. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und linste aus dem Fenster im oberen Teil. Jetzt war es nicht mehr Kansas, was er sah. Die Scheune war verschwunden und anstelle der Felder erstreckte sich die endlose Prärie einer neuen Welt vor ihm.
Er ging davon aus, dass die beiden ihn nicht sehen konnten, wenn er sie auch nicht sah. Trotzdem schob er den Riegel nicht wieder auf.
Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass es einen Weg dorthin zurück gab, was einmal sein Zuhause gewesen war. Er brauchte nur die Tür zu öffnen und hinauszutreten, dann würde er von einer Rechtsanwältin zurück nach Boston gebracht. Er würde eine von den Eltern verordnete Therapie machen und im Herbst in die nächste Klasse kommen. Er
könnte sich in Sicherheit wiegen. Wäre beschützt. Etwas zu beschützt. Er könnte einfach gehen und nie mehr wiederkommen. Wahrscheinlich wäre das auch gar nicht mehr möglich, sobald er einmal draußen war und die Tür hinter ihm zugefallen war.
Henry schluckte und betrachtete das Brandmal in seiner Handfläche. Bevor er sehen konnte, wie es sich bewegte, rieb er sich damit die Stirn. Er wollte zurück nach Boston. Er wollte diesen Ort hier hinter sich lassen und es war ihm egal, wer er war oder seine wirklichen Eltern. Er wollte, dass die Welt wieder normal wurde und sich vernünftig benahm. Dass sie aufhörte, so bedrohlich zu sein.
All das sagte er sich. Er sagte sich, dass er mit seinen Narben, die er ohnehin schon davongetragen hatte, einfach weggehen und die Fragen Fragen sein lassen könnte und er seine Ruhe haben würde. Aber was wurde dann aus den anderen? Wo immer sie auch sein mochten − sie waren jedenfalls zusammen. Und er war allein. Er würde sein Leben leben, ohne jemals zu erfahren, was aus ihnen geworden war.
Aber all das stimmte nicht. Henry belog sich
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