Fluch der 100 Pforten
seines Bettes. Er hatte keine Ahnung, warum seine Matratze feucht war. Ein einsamer Lichtstrahl fiel aus dem kleinen Postfach über ihm.
»Henrietta«, sagte Henry. »Bist du hier? Oder du, Richard?«
Der Raum war voll von leisen Geräuschen und Gerüchen. Doch durch sie hindurch nahm Henry wahr, dass Badon Hill offen stand. Als er blinzelte, klebten seine Augenlider ein wenig
zusammen. Er rollte sich auf den Bauch und kroch an die Stelle, wo eigentlich seine Lampe sein sollte. Sie lag kaputt auf dem Boden.
Im äußerst schwachen Licht sah Henry seinen Rucksack an den Fächern lehnen. Er nahm ihn, zog den Reißverschluss auf und fühlte hinein. Großvaters mit Gummis zusammengehaltene Notizbücher waren unversehrt. Neben ihnen ertastete Henry die Taschenlampe.
Er holte sie heraus, schaltete sie ein und ließ das Licht über seine Fächerwand gleiten. Alle Fächer standen offen. Na ja, fast alle jedenfalls. Endor, gleich über dem Fußboden, war geschlossen, und ebenso ein Fach auf der linken Seite. Henry trat noch ein paar weitere Fächer um das Postfach herum zu. Die Tür nach Badon Hill hing nur noch an einer Angel. Am liebsten hätte er sie ganz abgerissen.
Die Tür mit den Kompass-Schlössern war geschlossen.
Henry stand auf und öffnete die Zimmertüren. Er trat auf den Dachboden hinaus und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Stelle, wo Richard sonst schlief. Der Schlafsack war verschwunden.
Der Dachboden roch irgendwie komisch und das Fenster am hinteren Ende war zertrümmert. Draußen stimmte sich der Himmel auf den Sonnenaufgang ein. Oder die Sonne war gerade untergegangen und es dämmerte nun. Nur durch einen Blick aus dem Dachbodenfenster ließ sich das nicht genau sagen.
»Hallo?«, rief Henry die Treppe hinunter. »Onkel Frank? Tante Dotty?«
Henry stand am Kopf der Treppe und trat nervös von einem
Fuß auf den anderen. Hier stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Richards Schlafstelle war weg, das Fenster war eingeschlagen und so gut wie alle Fächer standen offen. Darius hatte ihn zwar durch die Fächer hindurchgezogen, aber Henry war davon ausgegangen, dass sonst nichts passiert sei. Jetzt wünschte er, er hätte nicht so laut gerufen.
Er fühlte, wie ihm das Blut in den Adern rauschte und sein Puls an seine Schläfen hämmerte. Er lauschte, konnte aber nichts Menschliches hören. Im Erdgeschoss knackte eine Holzdiele. Irgendwo fuhr der Wind durch ein offenes Fenster. Warum war eigentlich der Boden nass?
Es gab keine vernünftige Entschuldigung, auf dem Dachboden zu bleiben. Henry musste hinuntergehen. Er schaltete die Taschenlampe aus. Dann setzte er sich, zog seine merkwürdigen Stiefel aus und begann sich barfuß nach unten zu tasten.
Henry war diese Treppe oft genug hinabgeschlichen und er hatte jede einzelne Stufe nicht nur einmal knarzen gehört. Nun aber gellten ihm die Seufzer der Nägel in ihren schiefen Löchern in den Ohren und pumpten zusammen mit seinem Blut Überraschung und Adrenalin durch seine Adern. Er kannte dieses Haus nicht. Er kannte es nicht mehr.
Dann erreichte er den Flur auf der ersten Etage. Hier gab es nur ein Fenster, und das stand offen. Der Vorhang wehte ein wenig. Der dumpfe Geruch kam offenbar aus dem Teppich. Es gab kaum Licht, aber genug, um erkennen zu können, dass Großvaters Zimmertür offen stand. Henry verließ die Treppe und zuckte zusammen, als Wasser zwischen seinen Zehen emporquoll. Rasch lief er den Flur entlang und klopfte
mit den Fingerknöcheln an die Tür seiner Tante und seines Onkels. Sie war nur angelehnt. Henry schob die Tür auf und sah ins Zimmer. Sie waren nicht da, und auf dem Bett lagen keine Decken mehr.
Henry lief ein Stück zurück zum Zimmer seiner Cousinen und sah hinein. Das Zimmer war leer und die Decken ebenfalls verschwunden.
Obwohl er es gern gelassen hätte, atmete Henry tief ein und lief auf Zehenspitzen über den nassen Flur zu Großvaters Zimmer.
Der Schrank stand offen und das Bettzeug fehlte. Aber in diesem Moment versuchte Henry etwas ganz anderes zu verstehen. Etwas, das viel seltsamer war: Beide Fenster in Großvaters Zimmer waren eingeschlagen und die Holzblende war zersplittert. Die Vorhänge waren heruntergefallen oder heruntergerissen worden. Sie lagen auf dem Boden. Ein sanfter Luftzug wehte herein, und im Zimmer herrschte eine bedeutend bessere Luft als im übrigen Haus. Jenseits des Luftzugs war der kahle blaue Himmel noch dunkel, erhellte sich aber langsam. Nur − unter diesem Himmel lag nicht
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