Fluch der 100 Pforten
gesagt, Mordechai sei tot.«
Carnassus zupfte an seinem Bart und schluckte. »Die Elfen haben es behauptet. Und er ist nie zurückgekehrt. Daher habe ich es nicht bezweifelt.«
Nimiane nahm ihre Katze auf den Arm und stand auf. »Sein Funke ist verborgen, aber noch nicht verloschen. Wo auch immer er sein mag, der Tag seines Todes wird kommen. Dennoch werden wir die Saat vor dem Erzeuger vernichten. Bereitet die Pforten in den Bergen. Der erste Angriff erfolge!«
Henrietta lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken. Um sie herum raschelte hohes, trockenes Gras. Ihr Körper besaß keine einzige Faser, die nicht nach Ruhe und Erholung schrie. Nahezu den ganzen Tag hatte sie auf dem
Pferd verbracht. Und wenn sie nicht ritten, waren sie zu Fuß gegangen. Dabei hatte Henrietta die Nacht davor nicht richtig geschlafen und nach dem Abendessen am Fluss auch nichts mehr zu sich genommen, was man wirklich als Nahrung hätte bezeichnen können.
Ein vereinzelter Stein oder ein Erdklumpen, eine Bodendelle oder vielleicht auch ein Grasbüschel drückte sie an der Stelle in den Rücken, wo sie ihre Niere vermutete. Aber sie kümmerte sich nicht darum. Den Klumpen wegzuschieben hätte bedeutet, dass sie ihren Körper hätte bewegen müssen.
Sie hörte die Pferde stampfen und die Männer unter Lachen ihre Sättel und Säcke abnehmen. Irgendjemand sang. Wie man singen konnte, nachdem man den ganzen Tag lang herumgeschleudert und durchgeschüttelt worden war, war Henrietta ein Rätsel. Sie war einmal bei einem Rodeo gewesen, und nun konnte sie ziemlich gut nachempfinden, wie sich die Reiter nachher gefühlt haben mochten. Aber die hatten das Ganze nur acht Sekunden lang aushalten müssen. Sie dagegen acht Stunden. Wobei es unerheblich war, dass das Pferd die meiste Zeit Schritt gegangen war. Es hatte sich jedenfalls bewegt.
Ein Schrei drang an ihre Ohren, und unwillkürlich zuckte Henrietta zusammen.
Auf einem alten Baumstamm hatte sich einer von Calebs Vögeln niedergelassen. Er war riesengroß. Mit schief gelegtem Kopf sah er Henrietta an. Obwohl sie todmüde und völlig am Ende war, mochte sie diesen Vogel nicht in ihrer Nähe haben. Sein krummer schwarzer Schnabel schien messerscharf zu sein, und seine goldenen Augen blickten hungrig drein.
Stöhnend setzte Henrietta sich auf und rutschte ein Stück weg. »Warte, bis ich tot bin«, knurrte sie. »Dann kannst du fressen, was du willst.«
Die Erinnerung an das Rodeo ließ sie an Kansas, an ihre Geschwister und ihre Eltern denken. Sie überlegte, wie viele letzte Male sie wohl gesammelt hätte, wenn sie das alles nur geahnt hätte: die letzte Fahrt im Truck ihres Vaters, das letzte Mal, dass ihr ihre Mutter nach dem Duschen ein warmes Handtuch aus dem Trockner gab, das letzte Mal, dass sie reifendes Korn gerochen hatte, zum letzten Mal Grillen, ein Feuerwerk ansehen, einen Film gucken oder die Toilettenspülung betätigen. In einer Welt, in der man sich auf Pferden fortbewegte, gab es bestimmt keine Kanalisation.
Henrietta atmete tief ein und stieß die Luft langsam wieder aus. Wie oft hatte ihr Vater wohl seine Erinnerung nach letzten Malen durchsucht, wenn es wieder mal so aussah, als hätten sich seine Augen am Horizont festgesaugt? Sie biss sich auf die Lippe und strich sich die Haare hinter die Ohren. Sie durfte so nicht weitermachen! Sie durfte nicht in Vergangenem schwelgen! Sie musste ihr Leben jetzt leben. In diesem Moment.
Zuerst vergewisserte sie sich, dass der große Vogel nicht noch mal näher gekommen war. Dann hielt sie auf der von kahlen Stellen durchsetzten Wiese Ausschau nach Caleb. Er war nicht schwer zu finden.
Den Sattel auf dem einen Arm und in der anderen Hand seinen schwarzen Bogen, kam er auf sie zu. Der schwarze Hund, der zwar die Größe eines Ponys hatte, aber übermütig wie ein Welpe war, sprang um ihn herum. Caleb lächelte Henrietta zu, dann wandte er sich um und zwitscherte durch
seine Zähne hindurch den Vogel an. Der breitete seine Flügel aus, weiter, als Henrietta groß war, hüpfte ein paar Mal auf der Stelle und stieß wieder einen scharfen Schrei aus.
Der Hund wälzte sich im Gras und ließ seine Zunge heraushängen, die so groß war wie Henriettas Fuß. Caleb legte den Sattel und den Bogen ab und ließ sich neben dem Vogel auf dem Baumstamm nieder. Mit der behandschuhten Hand streichelte er ihm die Brust. Der Vogel legte die Flügel an und drehte seinen Kopf hin und her.
»Was ist das für ein Vogel?«, wollte
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