Fluch der Engel: Roman (German Edition)
brachten seine Worte etwas in mir zum Schwingen. Ganz von allein öffneten sich meine Lippen. Christopher beugte sich zu mir herunter, doch anstatt mich zu küssen, verstärkte er wieder den Griff um meine Taille.
Rasend schnell verlor ich den Boden unter den Füßen. Der überraschte Aufschrei, der mir entschlüpfte, als er senkrecht mit mir nach oben flog, entlockte Christopher ein samtwarmes Lachen, das meinen Gefühlspegel zum Überlaufen brachte. Erst als er die Stelle erreichte, wo wirklich alle , die sich auf dem großen Markusplatzund der Piazzetta versammelt hatten, uns sehen konnten, drosselte er sein rasantes Tempo. Allerdings nur, um ein weit aufsehenerregenderes Flugmanöver einzuleiten. Senkrecht schraubte er sich mit mir in den Nachthimmel, verharrte kurz bei der Aussichtsplattform des Campanile, um sich danach über den höchsten Punkt der Stadt zu erheben.
Racheengel zeigten sich nicht oft in ihrer Engelsgestalt – die anderen Engel fürchteten uns, weil sie wussten, was in uns steckte. Doch auch ohne Christophers auffällige Gestalt und seine von hellen Blitzen durchzogenen Flügel wären wir die Attraktion des Abends gewesen. Racheengel flogen selten in aller Öffentlichkeit. Gemeinsam niemals!
»Du Angeber«, beschwerte ich mich. »Hätte ich gewusst, dass du mich vor den Augen der versammelten Engelschar entführst, hätte ich mich niemals mit dir eingelassen.«
Christopher wusste, dass ich scherzte, doch anstatt mir Kontra zu geben, hüllte er sich in Schweigen. Sein Flügelschlag verlangsamte sich, bis unser Aufwärtsflug zum Stillstand kam.
»Es ist für die Engel dort unten nicht einfach, zu akzeptieren, dass zwei Racheengel sich gut verstehen«, begann er.
Ich schluckte meinen Einwand, mehr für ihn zu empfinden als bloßes Verständnis. Christopher war nicht der Typ Engel, der Aufmerksamkeit brauchte. Das ganze Manöver diente einem anderen Zweck, den er mir – im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten – gerade offenbaren wollte.
»Seit unserem ersten gemeinsamen Auftritt auf dem Dogenball sind wir das Gesprächsthema Nummer eins. Doch inzwischen hat sich eine Gruppe von Engeln zusammengefunden und die Dogin aufgefordert, ein Gesetz zu erlassen, das es Racheengeln verbietet, sich außerhalb der festgelegten Bereiche zu treffen. Sie fürchten, wir könnten uns zusammenschließen, um den Rat zu stürzen. Sie sehen in uns beiden eine drohende Gefahr.«
»Und? Ist das so? Wären die Racheengel mächtig genug, den Rat zu gefährden?«
Christopher lachte. Rau und widerwillig. »Mit ein wenig Unterstützung, die wir uns problemlos schaffen könnten, mit Sicherheit.«
Seine Antwort öffnete meinen verschlossen gehaltenen Fragenkatalog. Wie unzählige quicklebendige Flöhe schossen mir tausend Möglichkeiten durch den Kopf. Verbarg sich Sanctifer hinter der Sache mit dem Verbot? Welchen Kampf führte er gegen Christopher? Welchen führte Christopher gegen ihn? Und was für eine Rolle spielte ich eigentlich dabei? Aber vor allem eine Frage – die ich am liebsten aus meinem Kopf gerissen hätte – ließ mich nicht mehr los:
»Ist es das, wozu du mich brauchst?« Meine Stimme klang so bedrückt, wie ich mich fühlte.
Christophers Flügel umschlossen mich für einen wundervollen Augenblick und schirmten mich vor der Welt unter uns ab.
»Ich wusste, dass du das fragen würdest«, begann er. »Und wenn ich die Möglichkeit hätte, mit dir irgendwohin zu fliegen, wo niemand uns hasst oder fürchtet, könnte mich nichts aufhalten, dich dort in Sicherheit zu bringen.« Christophers Stimme klang weicher als Samt. »Doch weil das außerhalb meiner Möglichkeiten liegt, bleibt mir nur, jedem zu zeigen, wen er sich zum Feind macht, falls dir weitere Steine in den Weg gelegt werden.«
Christopher spielte auf meine unerwartete Engelprüfung an, die ich Sanctifer zu verdanken hatte. Doch ausgerechnet an einem Tag wie heute, wo alle Mächtigen der Engelswelt zuschauten, mit einem spektakulären Tandemflug erneut unsere Verbundenheit zu demonstrieren, war mehr als eine Warnung an seinen einstigen Mentor. Er war bereit, sich mit dem gesamten Rat anzulegen, einschließlich dessen Oberhauptes, der Dogin. Und obwohl ich keine Zweifel an Christophers Macht hegte, war ich mir über eines sicher: Dass er sich in Gefahr begab, um mich zu beschützen, so weit durfte ich es niemals kommen lassen. Dafür war mir sein Leben viel zu wertvoll.
»Ich werde nie wieder zulassen, dass dir jemand weh tut«,
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