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Fluch, Der: Roman

Fluch, Der: Roman

Titel: Fluch, Der: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht – etwas mehr als das Geheul des Windes in einer leeren Höhle. Dann wandte er sich wieder ab und ging ein paar Schritte weiter.
    »Vielleicht hast du noch eine Minute Zeit, damit ich dir die Adresse von meiner Tochter aufschreiben kann«, sagte Billy mit erhobener Stimme. Er brauchte sich nicht allzusehr anzustrengen dabei. Das war gar nicht nötig, um ihr die genügende Schärfe eines Befehls zu verleihen. Diese Schärfe, die er in vielen Jahren im Gerichtssaal eingeübt hatte. »Sie ist zwar nicht so schön wie eure Gina, aber wir finden sie recht hübsch. Vielleicht könnten die beiden sich über das Thema Gerechtigkeit Briefe schreiben. Was hältst du davon, Lemke?
    Werden sie sich darüber unterhalten können, nachdem ich so tot bin wie deine Tochter? Wer wird denn nun herausfinden können, bei wem die Schuld wirklich lag? Unsere Kinder?
    Unsere Enkelkinder? Nur noch einen Augenblick, ich schreib' mal schnell ihre Adresse auf. Es dauert nicht lange.
    Ich werde sie auf die Rückseite deiner Fotografie schreiben, die habe ich zufällig bei mir. Wenn sie sich in diesem Chaos nicht zurechtfinden, können sie sich ja eines Tages gegenüberstellen und sich gegenseitig erschießen, und dann haben ihre Kinder den nächsten Versuch frei. Was denkst du, alter Mann ... hat das vielleicht mehr Sinn als diese Scheiße hier?«
    Samuel legte dem Alten seinen Arm um die Schulter.
    Lemke befreite sich und schritt wieder langsam auf Halleck zu. In seinen Augen standen jetzt Tränen der Wut. Seine gichtigen Hände ballten und öffneten sich. Alle anderen beobachteten sie schweigend und furchtsam.
    »Du hast meine Tochter auf offener Straße überfahren«, sagte er. »Du hast meine Tochter auf offener Straße überfahren, und jetzt hast du ... du hast borjade rulla genug, hierher zu mir ins Lager zu kommen und zu mir zu sprechen. Ich weiß, wer es getan hat. Ich habe ihn bestraft. Meistens drehen wir uns um und verlassen die Stadt. Ja, meistens machen wir es so. Aber manchmal bekommen auch wir unsere Gerechtigkeit.« Er hob seine knorrige Hand direkt vor Hallecks Augen. Plötzlich schnappte sie zur Faust zusammen. Einen Augenblick später tropfte daraus Blut hervor. Die anderen fingen an zu murmeln, aber es war weder Furcht noch Überraschung noch Zustimmung herauszuhören.
    »Romani Gerechtigkeit, skummade igenom. Die beiden anderen habe ich schon erledigt. Dieser Richter, er ist vor zwei Tagen aus dem Fenster gesprungen. Er ist ...« Taduz Lemke schnippte mit den Fingern und blies dann über seinen Daumenballen, als läge eine winzige Feder darauf.
    »Hat Ihnen das Ihre Tochter zurückgegeben, Mister Lemke?
    Ist sie zu Ihnen zurückgekehrt, als Cary Rossington da oben in Minnesota auf dem Boden aufgeschlagen ist?«
    Lemkes Lippen zitterten. »Ich brauche sie nicht zurück.
    Gerechtigkeit bringt die Toten nicht zu uns zurück, weißer Mann. Gerechtigkeit ist einfach Gerechtigkeit. Du solltest lieber von hier verschwinden, bevor ich dir etwas anderes antue. Ich weiß, was deine Frau mit dir im Auto gemacht hat. Glaubst du etwa, ich hätte das Zweite Gesicht nicht? Ich habe das Zweite Gesicht. Da kannst du jeden hier fragen.
    Ich habe das Gesicht von einhundert Jahren.«
    Die um das Feuer Sitzenden murmelten bestätigend.
    »Es ist mir egal, wie lange du dieses Gesicht schon hast«, sagte Halleck. Er langte bewußt nach der Schulter des Alten und griff fest zu. Von irgendwoher hörte er wütendes Gemurmel. Samuel Lemke rannte vorwärts. Taduz Lemke wandte den Kopf und spuckte ein einziges Wort in Romani aus. Der junge Mann blieb verwirrt und unsicher stehen.
    Auf den meisten Gesichtern um das Lagerfeuer breitete sich Verwirrung und Unsicherheit aus, aber das sah Halleck nicht. Er sah nur Taduz Lemke. Er beugte sich hinunter, näher, immer näher zu seinem Gesicht, bis seine Nase fast das schwammige, verschrumpelte Gewucher berührte, das von Lemkes Nase übriggeblieben war.
    »Ich scheiß' auf deine Gerechtigkeit«, sagte er. »Du hast von Gerechtigkeit soviel Ahnung wie ich von Düsenturbinen. Nimm es von mir.«
    Lemke starrte ihm in die Augen - diese schreckliche Leere.
    »Laß mich los, oder ich mache es noch schlimmer«, sagte er ruhig. »So viel schlimmer, daß du denkst, ich hätte dich das erstemal gesegnet.«
    Plötzlich breitete sich wieder das Lächeln auf Billys Gesicht aus - ein knöchernes, breites Grinsen, das aussah wie eine auf den Rücken gekippte Mondsichel. »Nur zu«, höhnte er. »Versuch's. Aber

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