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Fluch, Der: Roman

Fluch, Der: Roman

Titel: Fluch, Der: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht Hals über Kopf wegrennen, wenn der erste Schock einmal überwunden ist.
    Ginelli küßte sich auf den rechten Daumen, bekreuzigte sich und sagte: »Darf ich reinkommen, William?«
    Ginelli hatte eine bessere Medizin mitgebracht als Fander.
    Chivas. Er zog die Flasche aus seinem kalbsledernen Aktenkoffer und goß ihnen beiden erst mal einen steifen Drink ein. Dann stieß er den Rand seines vom Motel gestifteten Plastikbechers kurz gegen den Rand von Billys.
    »Auf glücklichere Tage als diese«, sagte er. »Wie klingt das?«
    »Gar nicht schlecht«, lachte Billy und trank den Becher in einem Zug leer. Als die warme Explosion in seinem Magen nur noch weiche Nachwehen hinterließ, entschuldigte er sich und ging kurz ins Bad. Er mußte nicht aufs Klo, aber er wollte nicht, daß Ginelli ihn weinen sah.
    »Was hat er mit dir gemacht?« fragte Ginelli. »Hat er dir das Essen vergiftet?«
    Billy fing an zu lachen. Es war das erste richtige, herzhafte Lachen seit langem. Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen kullerten.
    »Richard, du bist herrlich«, sagte er, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. Jetzt schmunzelte und kicherte er nur noch ab und zu. »Alle anderen Menschen, einschließlich meiner Frau, halten mich für wahnsinnig. Und du? Als du mich zum letztenmal gesehen hast, hatte ich an die vierzig Pfund Übergewicht. Und heute sehe ich aus, als wollte ich mich um die Rolle der Vogelscheuche für ein Remake von  The Wizard of Oz bewerben. Aber das erste, was ich aus deinem Mund höre, ist: ›Hat er dir das Essen vergiftet?‹«
    Ungeduldig tat Ginelli beides, das hysterische Gelächter und das Kompliment, mit einer abfälligen Handbewegung ab. Ike und Mike, die denken gleich, dachte Billy. Lemke und Ginelli genauso. Wenn es um Rache und Gegenrache geht, haben sie überhaupt keinen Sinn für Humor.
    »Also. Hat er?«
    »Ich nehme an, ja. Auf gewisse Weise tut er das, ja.«
    »Wieviel Pfund hast du verloren?«
    Biüys Blick wanderte zum großen Spiegel an der gegenüberliegenden Zimmerwand. Es erinnerte ihn an eine Stelle, die er irgendwo mal gelesen hatte - er glaubte, in einem Roman von John D. MacDonald. Alle amerikanischen Motelzimmer schienen mit Spiegeln überladen zu sein, und das, obwohl sie doch hauptsächlich von übergewichtigen Geschäftsreisenden benutzt wurden, die keinerlei Interesse daran haben konnten, sich nackt zu sehen. Er war zwar das genaue Gegenteil von übergewichtig, aber die Ressentiments gegen Spiegel konnte er gut nachempfinden. Er vermutete, daß es sein Gesicht gewesen war – nein, nicht nur das Gesicht, sein ganzer Kopf –, was Ginelli vorhin solche Angst eingejagt hatte. Sein Schädelumfang war ja gleich geblieben, während der Rest seines Körpers immer mehr verschwunden war, und als Ergebnis hing der Kopf jetzt über dem Rumpf wie die entsetzlich übergroße Blüte einer herbstreifen Sonnenblume.
    Ich werde den Fluch niemals von dir nehmen, weißer Mann aus der Stadt.
    »Wieviel Pfund, William?« wiederholte Ginelli seine Frage.
    Seine Stimme war ruhig, beinahe sanft, aber in seinen Augen funkelte ein seltsames, klares Licht. Billy hatte noch nie die Augen eines Menschen so funkeln sehen. Es machte ihn nervös.
    »Als es angefangen hat - das heißt, als ich aus dem Gericht kam und der Alte mich angefaßt hat -, da habe ich zweihundertfünfzig Pfund gewogen. Heute vormittag war ich kurz vor dem Essen auf der Waage. Da waren es noch fünfundneunzig. Das macht ... hundertfünfundfünfzig Pfund, nicht wahr?«
    »Jesusmariaundjosephduheiligerstrohsack«, flüsterte Ginelli und bekreuzigte sich nochmals. »Er hat dich angefaßt?«
    Jetzt kommt der Punkt, an dem er geht – an diesem Punkt machen sie sich alle aus dem Staub, dachte Halleck. Eine winzige Sekunde lang hatte er den Gedanken, einfach zu lügen, sich irgendeine Geschichte von vergiftetem Essen auszudenken.
    Aber wenn es je einen richtigen Zeitpunkt für Lügen gegeben hätte, war er vorbei. Und wenn Ginelli wegginge, dann würde er, Billy, höflich mit ihm gehen, wenigstens bis zu seinem Wagen. Er würde ihm die Tür öffnen und sich für sein Kommen bedanken. Er würde das tun, denn Ginelli hatte ihm zugehört, als er ihn mitten in der Nacht angerufen hatte. Er hatte ihm dieses besondere Exemplar eines Arztes vorbeigeschickt. Und nun war er selbst gekommen. Aber vor allem würde er diese Form der Höflichkeit wahren, weil Ginellis Augen sich so geweitet hatten, als er

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