Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)
war froh, dass er anscheinend endlich ein anderes Thema gefunden hatte.
»Die Flut kommt«, sagte er.
»Woran sehen Sie das? « , fragte sie.
»Jaaaa«, antwortete er gedehnt. Die Flut kommt seit einigen Jahren immer recht zuverlässig nach jeder Ebbe. Sagte er nicht. Stattdessen deutete er auf den endlosen Horizont im Osten.
»Sehen Sie die Stelle, wo die Wasserlinie fast silbern ist?« Er brachte seinen ausgestreckten Arm so dicht vor ihr Gesicht, als sei das Phänomen nur an einem ganz bestimmten Punkt zu beobachten. Ihre Haare berührten sich und – glaubten sie jedenfalls – auch ihre Ohren ein wenig.
»Die Fläche davor ist viel dunkler. Das bedeutet, dass das Wasser steigt.«
Lügner, dachte er, völliger Schwachsinn!
Konnte es sein, dass ihr Kopf so warm war? Oder war es die Sonne?
»Ja«, entgegnete sie und sah nur, wie einige Dutzend Pelikane plötzlich ihre drei Meter langen Flügel ausbreiteten und aufflogen. Für einen Moment sah es so aus, als habe sich die Horizontlinie selbst aufgehoben. »Es ist schön hier«, sagte sie nun doch, als die Pause zu lang wurde.
»Ja.« John nahm den Arm herunter und rückte wieder ein Stückchen ab, weil er nicht mehr wusste, wie er so viel Nähe rechtfertigen sollte. »Und Ihr Kaffee ist viel besser als das Zeug, das der Kapitän macht!«
»Danke.« Deborah lächelte und sagte nicht, dachte nicht einmal daran, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keinen Kaffee gekocht hatte. »Werden wir heute den Fluss erreichen?«, fragte sie lediglich, um weiteren Bemerkungen über das unangenehme Getränk vorzubeugen, dessen Wirkung sie in Magen und Kniekehlen fühlte. Oder war es etwas anderes?
»Nein«, antwortete John. »Aber mit etwas Glück werden wir heute bis in die Fourleague Bay kommen. Dann ist zumindest dieses Herumkriechen im Sumpf vorbei.« Er sagte nicht, dass er sich vor der Fahrt entlang der Küste fürchtete. Verwundert stellte er jedoch fest, dass sie seine Gefühle zu spüren schien.
»Und ist das gut oder schlecht? « , fragte sie.
John überlegte, ob er sie anlügen sollte, wie er es bei besorgten Passagieren schon häufig getan hatte, aber noch während er darüber nachdachte, sagte er bereits: »Das ist gut, aber auch sehr gefährlich. Wir haben zu wenig Tiefgang. Auf dem Fluss und in seichten Gewässern ist das natürlich ein Vorteil, aber Wind und Wellen im offenen Wasser könnten uns leicht umwerfen.«
»Warum?«
»Zu wenig Tiefgang, wie gesagt. Und im Verhältnis zur geringen Breite sehr hohe Aufbauten. Der Wind hat viel Angriffsfläche.« Er versuchte, mit den Händen zu demonstrieren, was er meinte, indem
er mit drei Fingern der rechten einen schmalen Schiffsrumpf und mit der Handfläche der linken die Aufbauten skizzierte und das Ganze umschlagen ließ.
Deborah überlegte nur kurz. »Können wir uns schwerer machen?«, fragte sie dann. »Oder breiter? Oder die Wände wegnehmen und den Wind durch das Schiff durchwehen lassen? «
John stutzte. Das waren gute Ideen. Er wollte es gerade sagen, als die Maschinenglocke anschlug.
»Was bedeutet das? « , fragte Deborah, als sie beinahe schlagartig die Spannung fühlte, in die das Geräusch Körper und Geist des jungen Mannes versetzte.
»Der Kessel steht unter Dampf«, sagte er. »Wir können losfahren. Ich werde Jason und Gringoire wecken.«
»Das kann ich machen«, antwortete sie resolut und verließ das Steuerhaus, ehe er protestieren konnte.
Jason! John Gowers hätte sich am liebsten die Faust an die Stirn geschlagen. Wieso hatte er bloß diesen Namen erwähnt? Und warum hatte sie so schnell darauf reagiert? Missmutig hob er die Tasse und beruhigte sich erst wieder, als er sie drehte und mit seinem Mund die Stelle berührte, an der ihre Lippen gewesen waren.
117.
Sie waren ein wenig zu weit nach Norden geraten und erkannten am späten Nachmittag, dass der schmale dunkle Streifen, den sie für die Küstenlinie gehalten hatten, in Wirklichkeit die Raukumara Range war, mit dem Hikurangi, dem heiligen Berg der Ngati Porou, als ihrem höchsten Gipfel. Diejenigen unter ihnen, die zu den Ngati Porou gehört hatten, konnten nicht verhindern, dass ihnen bei diesem Anblick die Tränen kamen, und die übrigen Whakarau umarmten ihre vom Heimweh übermannten Fluchtgenossen und weinten vor Freude. Sie waren zu Hause!
Die Poverty Bay zu erreichen war relativ einfach, als im Laufe
der Nacht wieder Wind einsetzte, aber die steinige kleine Whareongaonga-Bucht anzusteuern, mitten in der von
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