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Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Fluch des Südens: Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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darauf, die Anwesenheit der Kinder zu erspüren. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Aber es blieb zu dunkel. Er würde auf die Dämmerung warten müssen.

43.
    Obwohl sie geborene Seefahrer und auf vielen Wal- und Robbenfängerschiffen des 19. Jahrhunderts begehrte Matrosen waren, hatten die Maori nach achthundert Jahren des Lebens auf festem Land die Künste der Tangata Whenua, ihrer Seefahrerahnen, verlernt, wenn auch nicht vergessen: Durch das Verständnis der Sterne, der Wolken, des Meeres und seiner Strömungen Länder, Inseln und die Wege zwischen ihnen zu finden bei Tag und bei Nacht war ihnen fremd geworden. Lediglich die Küstenschifffahrt war ihnen halbwegs vertraut, aber dennoch war schon die Fischerei in ihren Augen keine Beschäftigung für Krieger, denn Fischer sind geduldige, friedliche Menschen. Menschen, die hinnehmen, anstatt wegzunehmen, weil Aggression im Kampf mit dem Meer keinerlei Vorteile mit sich bringt.
    Die Moriori von Chatham waren Fischer gewesen.
    Der alte Mann lebte unweit von Owenga, am Manukau Point, den die Weißen Kap Fournier nannten. Das Kap bildete die Südostspitze von Chathams Hauptinsel Wharekauri und war von Waitangi und den Hütten der Verbannten gute fünfundzwanzig Meilen entfernt. Eine Reise von zwei, drei Tagen. Eine Volkszählung fünf Jahre zuvor hatte ergeben, dass von den einst über zweitausend Moriori nur noch knapp hundert am Leben waren, darunter nicht mehr als eine Handvoll Männer in seinem Alter. Denn er war schon nicht mehr jung gewesen, als die Maori
kamen, um sein Volk zu versklaven, und die meisten Männer seiner Generation waren umgekommen bei den verzweifelten Versuchen, das zu verhindern.
    Er hatte seit dieser Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen, mit keiner mehr schlafen dürfen, denn seine Ehefrau hatte ein Maorikrieger ihm weggenommen, und seine Kinder, zwei Töchter und einen Sohn, hatte er sterben sehen. Niemand war mehr da, an den er sein Wissen weitergeben konnte, wie sein Vater es an ihn weitergegeben hatte  – und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn und dessen Vater an ihn. Die heilige Kette war zerbrochen, und sein Wissen würde mit ihm sterben.
    An guten Tagen erinnerte er sich daran, wie sein Vater ihn mit hinausgenommen hatte, bis die Inseln in einer Welt aus Wasser versunken waren. Die erste Nacht ohne Land. Die Bahnen der Sterne, die Länder und Inseln, über denen sie auf- oder untergingen; der Lauf der Sonne im Wechsel der Jahreszeiten, die Wolken, die immer dorthin zogen, wo Land lag, weil das Land wärmer war als das Meer. Das Lapa , geheimnisvolles unterseeisches Leuchten, das von den Landmassen ausging und in dunklen Nächten bis in eine Entfernung von hundert Meilen mehr zu erahnen als wirklich zu sehen war. Schließlich die Strömungen. Einige konnte man spüren, wenn man die Hand ins Wasser tauchte. Aber die großen Strömungen wohnten weit unten im Meer.
    Mit Stricken aus Bast, die bis zu fünfzig Meter lang waren, hatten sie sich an das kleine Kanu gebunden und sprangen nackt, mit schweren Steinen in ihren Armen, ins Wasser. Die Steine zogen sie rasch hinab. Ein guter Lotse war immer auch ein guter Taucher und konnte unglaublich lange unter Wasser bleiben.
    »Spreiz die Beine und achte auf deine Hoden«, hatte sein Vater gesagt, und er spreizte die Beine und achtete auf seine Hoden, an denen die Strömung zog in der grundlosen Tiefe.
    »Die stärksten saugen an dir wie der Mund eines Weibes«, sagte der Vater und lachte, als sie wieder auftauchten, aber noch hatte
keine Frau ihn berührt, und er verstand diese Worte erst sehr viel später. Dafür wusste er nun, wie die Strömungen hießen und wohin sie führten, wusste, dass die »Löcher« in einer Strömung durch weit entfernte Inseln hinter dem Horizont verursacht wurden, und würde diese Inseln auch in sternloser Nacht finden. Die Kombination all dieser Kenntnisse machte den Navigator aus.
    Nach einer Lehrzeit von fast zehn Jahren hätte er mit dem geeigneten Boot und genügend Proviant ausgestattet jeden Punkt im Pazifischen Ozean erreicht  – und erhielt die Tätowierungen, die das anzeigten: Punkte und Linien, Kreise, die von seinen Augenwinkeln zu den Schläfen und Ohren führten, über die Kieferknochen bis auf sein Kinn liefen, wo sie einander umschlangen wie die Arme von Liebenden. Sterne und Strömungen, die Wolken und den Wind kenne ich , sagten die uralten Zeichen, die sich seit den Tagen der Tangata Whenua nicht verändert hatten und im gesamten

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