Fluch von Scarborough Fair
Lucy sich mit vernünftigen Erklärungen zu beruhigen versuchte, die Angst blieb.
Sie ertrug es. Ihre Therapeutin meinte, ängstliche Gefühle seien nichts Ungewöhnliches. Sie verordnete Schlaftabletten für die schlimmen Nächte und riet ihr, sich tagsüber mit irgendwas zu beschäftigen– was Lucy auch tat.
Sie hatte eine Aufgabe: Sie musste Soledad und Leo– und sich selbst– davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Warum sollte es ihr eigentlich nicht gut gehen? Die Bestätigung dafür gab sie sich immer wieder selbst. Erstens war sie nicht allein. Es gab Menschen, die sie liebten und ihr beistehen konnten. Zweitens befolgte sie alle Anordnungen. Sie war beim Arzt gewesen, hatte sich untersuchen und testen lassen, und hatte brav die Medikamente genommen, die jedes Risiko einer Schwangerschaft ausräumen sollten. Zweimal pro Woche ging sie zur Therapeutin. Wenn sie wollte, konnte sie sich später einer Selbsthilfegruppe anschließen. Drittens achtete sie auf ihre Gesundheit. Sie aß regelmäßig, auch wenn sie mal keinen Hunger hatte. Zusätzlich zu ihrem normalen Training besuchte sie jede Woche noch einen Yoga- und einen Selbstverteidigungskurs.
Lucy führte ihr Leben weiter wie bisher. Sie lernte für ihre Abschlussprüfungen und bestand sie alle. Sie ging zum Jahresabschlussbankett ihres Lauf-Teams. Und sie trug sich mit Sarah Hebert für einen Ferienjob im Rahmen des städtischen Freizeit- und Erholungsprogramms ein, um für Kinder Leichtathletikveranstaltungen, Spiele und Bastelkurse zu organisieren.
Es war praktisch lebenswichtig, dass sie sich möglichst rasch erholte. Niemand sollte sich Sorgen machen. Alle sollten sehen, dass es ihr gut ging.
Lucy ging sogar zu Grays Totenwache. Im Beisein von Soledad und Leo warf sie einen Blick auf sein wächsernes Gesicht in dem halb geöffneten Sarg. Dann trat sie rasch zur Seite.
Der Tote war nicht Gray. Aber die Erkenntnis, dass Gray nicht Gray war, hatte nichts mit der verrückten Gewissheit von damals gemein, als er sie vergewaltigt hatte. Im Gegensatz zu jenem lebendigen Gray war dieser Gray– dieser Körper– nur eine leere Hülle.
Da spürte Lucy zum ersten Mal diese Übelkeit. Danach kam und ging sie, wie das Gefühl von den näher rückenden Bäumen. So ein gelegentliches Unwohlsein war nichts Weltbewegendes, deshalb ignorierte Lucy es meistens und verbarg es vor ihren Eltern, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen.
Lucy war davon überzeugt, dass ihre völlige Genesung– in deren Verlauf auch die surrealen Empfindungen und das Krankheitsgefühl verschwinden würden– bestimmt nicht so lange dauerte, wie die Therapeutin behauptete. Diese sprach von Monaten oder gar Jahren. Soledad hatte noch hinzugefügt, dass hin und wieder Angstzustände auftreten könnten und dass Lucy damit rechnen müsse, dass auf einer gewissen emotionalen Ebene nichts mehr so sein würde wie zuvor.
Lucy war insgeheim allerdings anderer Meinung. Bei mir ist es nicht so wie bei anderen Mädchen oder Frauen, dachte sie und wandte dabei eine Logik an, die sie sehr beruhigend fand. Meine Situation ist ganz anders. Gray ist tot. Ich muss keine Angst mehr vor ihm haben und ich muss nicht auf Rache sinnen, die ich nicht bekommen kann, oder wenn, dann zu einem hohen Preis, weil ich vor Gericht gehen muss. Der Gerechtigkeit wurde schon Genüge getan.
Wenn ich mein Leben einfach so weiterlebe wie bisher, werde ich mich bald wieder ganz normal fühlen. Und niemand außer mir, meinen Eltern und meinen Ärzten– und Zach– wird je erfahren, was passiert ist. Irgendwann werde ich nicht einmal mehr daran denken. Vielleicht in ein, zwei Monaten, höchstens. Indem sie sich das einredete, überstand sie die Tage.
Aber nicht die Nächte.
Mit der in prachtvollem Rot und Orange am Horizont versinkenden Sommersonne sank auch Lucys Mut, und sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Gedanken kreisten unablässig wie ein großer alter Hund, der keinen Platz zum Hinlegen fand. Lucy versuchte, ihre Gedanken zu kontrollieren. Dabei stellte sie fest, dass sich die schlechten Gefühle am besten mit ihren Lieblingsbüchern aus der Kindheit vertreiben ließen, und deshalb las sie bis tief in die Nacht. Sie las noch einmal Im Zeichen der Löwin, weinte zwanzig Minuten lang über Sara, die kleine Prinzessin undblätterte dann zum Anfang des Buches zurück, um es von Neuem zu lesen.
Aber jede Nacht kam irgendwann der Punkt, an dem sie das Licht ausmachen und zumindest so tun musste, als ob sie schliefe.
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