Fluch von Scarborough Fair
zugestimmt hätte, wenn sie damals dabei gewesen wäre. Wenn ihre Freundin Sarah Hebert schwanger wäre und Lucy um Rat fragen würde, würde Lucy bestimmt eine Abtreibung erwägen. Vielleicht würde sie sogar darauf drängen.
Miranda hatte den Gedanken verworfen– vielleicht, weil sie verrückt war. Aber musste Lucy darüber nicht froh sein? Immerhin war sie deshalb hier und lebendig.
Es war ein seltsamer Moment. Danke, dachte sie. Danke, Miranda.
Danke, Mutter.
Nach einer Weile widmete Lucy ihre Aufmerksamkeit wieder den Eintragungen im Tagebuch und las, wie Miranda und Soledad Freundschaft schlossen.
Ihre Freundschaft begann, als Miranda im fünften Monat schwanger und von zu Hause und vor IHNEN weggelaufen war. Sie war davongelaufen, weil Kias ablehnende Haltung nur die erste von mehreren hartherzigen Reaktionen gewesen war, die– so schien es Lucy, als sie die mühsam hingekritzelten Zeilen las– zu Mirandas Entschluss geführt hatten, IHNEN Geld zu stehlen und abzuhauen.
Miranda ging nach Boston und lebte so sparsam, wie es nur ging. Ab und zu wohnte sie in Obdachlosenheimen, manchmal in billigen Motels, und manchmal kam sie auch bei jungen Leuten unter, die ihr ein Sofa oder den Fußboden als Schlafplatz anboten. Und dann eines Tages ging Miranda zu einer Schwangerenberatungsstelle in Jamaica Plain, die Soledad leitete.
Miranda schrieb:
Ich habe heute eine Krankenschwester kennengelernt.
Ihr Name ist Soledad. Ich wünschte, sie wäre meine Mutter. Aber dafür ist sie nicht alt genug. Sie könnte eher meine große Schwester sein, wenn ich eine hätte.
Ihre Augen, ihr Lächeln. Die Art, wie sie zugehört hat. Ich hatte das Gefühl, ich könnte ihr alles erzählen und sie würde mich nicht verurteilen. Ich weiß, das stimmt nicht ganz. Ich kann ihr nicht die Wahrheit über das Baby sagen und darüber, was ich tun muss, meine unmöglichen Aufgaben, aber alles andere kann ich ihr erzählen.
Ich werde sie wiedersehen.
Und drei Wochen später schrieb sie:
Endlich hab ich Soledad gesagt, dass ich keine Unterkunft habe. Und jetzt habe ich eine. Ich wohne jetzt hier, bei ihr und ihrem Mann Leo. Sie haben mir ihr Gästezimmer gegeben. Es hat ein Bett, einen Stuhl am Fenster und ein Einbauregal.
Hier fühle ich mich sicher.
Kapitel 20
Als Lucy schließlich ihr Handy wieder einschaltete, hatte sie jede Menge Mitteilungen. Ihre Eltern hatten sich Sorgen gemacht. Lucy seufzte. Mit dem Tagebuch in der einen und Pierres Leine in der anderen Hand ging sie nach Hause. Sie war kein Kind mehr. Warum musste sie immer erreichbar sein? Hatte sie ihre Eltern nicht schon genug beruhigt?
Lucy hatte geglaubt, sich unter Kontrolle zu haben, aber als sie jetzt Leo bei der Hintertür stehen und nach ihr Ausschau halten sah, und Soledad ein paar Schritte von ihm entfernt mit besorgtem Blick, explodierte sie.
» Wieso steht ihr da herum? Kann ich nicht mal für ein paar Stunden allein sein? Ich hab eine Nachricht hinterlassen, dass es mir gut geht. Außerdem hatte ich Pierre dabei. Und jetzt bin ich, wie versprochen, pünktlich wieder zu Hause. Also warum schickt ihr mir dann 17 Millionen Mitteilungen? Gab es irgendeinen Notfall, he?« Als Lucy fertig war, schnappte sie nach Luft und bemerkte kaum, dass Pierre unter dem Küchentisch Schutz gesucht hatte.
» Es waren drei Mitteilungen.« Leo machte ein entsetztes Gesicht. Den letzten Wutanfall hatte Lucy mit fünf bekommen, als sie sich in einem Kaufhaus auf den Boden geworfen hatte, um Soledad dazu zu bringen, ihr einen Muff aus Kunstpelz zu kaufen. » Wir waren nicht wirklich besorgt. Na ja, vielleicht ein bisschen, und deine Mutter meinte–«
» Dann verklag uns doch, weil wir uns Sorgen machen!«, warf Soledad ein.
Lucy stand mit gespreizten Beinen da und presste das Tagebuch an ihre Brust, die sich rasch hob und senkte. Sie sah, dass Soledads Blick auf dem Tagebuch mit seinem lila Einband ruhte.
» Lucy, was ist das?«, fragte Soledad vorsichtig. » Es kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Lucy spürte, wie ihr Zorn sich legte. Im selben Moment wurde ihr klar, dass sie eigentlich gar nicht wütend auf ihre Eltern war, sondern dass sie einfach nur das Bedürfnis gehabt hatte zu schreien.
Das half wenigstens etwas.
» Zach hat es in Mirandas Einkaufswagen gefunden.« Lucy hatte einen rauen Hals vom Schreien, aber das war nicht der Grund, warum sie flüsterte. Sie hielt das Tagebuch fest umklammert und beobachtete, wie es Soledad bei dessen Anblick allmählich
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