Fluch von Scarborough Fair
Dann lag sie im Dunkeln wach, und dieses unerklärliche Angstgefühl stieg wieder in ihr hoch. Manchmal kam auch noch die Übelkeit hinzu, aber in der Regel wartete sie bis zum Morgen, ein boshaftes Abschiedsgeschenk der Nacht.
Ab und zu schlief Lucy vor lauter Erschöpfung ein, oder weil sie die Schlaftabletten nahm, die man ihr verschrieben hatte. Aber wenn sie schlief, träumte sie.
Die Träume drehten sich nicht um Gray oder die Vergewaltigung, sondern um Miranda. Miranda, wie sie schrie und tobte, wie sie sang und wie sie absichtlich mit Gegenständen nach Lucy warf. Wenn Lucy aufwachte, konnte sie sich nicht mehr genau erinnern, welche Gegenstände das waren. Sie wusste nur noch, dass sie so schwer waren wie ein Eishockeypuck. Es tat weh, wenn sie ihr Ziel trafen, und sie trafen immer: Lucys Brust, Lucys Schulter, Lucys Knie und einmal sogar Lucys Kopf. Im Traum war Lucy hilflos und konnte zum Schutz nicht mal die Arme heben. In panischer Angst erwartete sie einen Treffer nach dem anderen.
Es widerstrebte ihr jedoch, von Albträumen zu sprechen, obwohl sie schaurig waren und sie danach jedes Mal schweißgebadet und mit Herzklopfen aufwachte.
Trotzdem…
In all den Träumen kam Miranda ihr am Ende ganz nah und sah ihr in die Augen. Und dann wurde Lucy wieder ganz klein, wie ein Baby, und ruhte in Mirandas Armen. Miranda wiegte und küsste sie und flüsterte flehende Worte, an die sich Lucy nach dem Aufwachen beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte.
In ihren Träumen liebte Miranda sie am Ende.
So ging das fast drei Wochen lang. Und dann, einen Tag nach dem letzten Schultag, gab Zach Lucy das Tagebuch.
In aller Frühe klopfte Zach an Lucys halb offene Zimmertür. Es war kurz vor sechs, und er war auf dem Weg zur Arbeit. Er trug Arbeitsjeans, Stiefel und ein altes verwaschenes Red-Sox-T-Shirt mit weißen Farbspritzern und dem Namen Garciaparra auf dem Rücken. Eine Strähne seines dichten rotblonden Haares fiel ihm über die Stirn.
» Morgen.«
Lucy, die gerade E-Mails gecheckt hatte, riss sich zusammen, lächelte und sagte und tat, was sie im Normalfall gesagt und getan hätte. » Oh, Zach? Hattest du das T-Shirt nicht schon gestern an?«
Zach zuckte mit den Schultern. » Wir streichen heute noch mal. Es hat keinen Sinn, ein weiteres T-Shirt zu versauen.«
Dann bemerkte Lucy das Buch in seiner Hand. Er hielt es verlegen vor seiner Brust. Auf dem Einband waren lila Stiefmütterchen.
» Was ist das?«
Zach trat ins Zimmer und hielt Lucy das Buch hin. » Hier. Das ist für dich.«
Lag es daran, wie Zach seine Hand ausgestreckt hatte? Lag es an seinem Gesichtsausdruck oder vielleicht an dem Buch selbst? Jedenfalls hatte Lucy plötzlich wieder dieses bedrohliche Gefühl, und ihr wurde wieder übel.
Sie machte keine Anstalten, das lila Buch zu nehmen. » Was ist das?«
Zach sah Lucy in die Augen. » Ich bin nicht ganz sicher. Ich hab nur ein bisschen darin gelesen. Aber ich glaube, es ist Mirandas Tagebuch aus ihrer Teenagerzeit. Jedenfalls lassen die ersten paar Einträge darauf schließen.«
Lucy begriff zunächst nicht.
» Ich hab es in ihrem Einkaufswagen gefunden«, erklärte Zach. Erneut hielt er Lucy das Buch hin.
Das unheilvolle Gefühl schnürte ihr jetzt fast die Kehle zu. Trotzdem streckte Lucy ganz automatisch die Hand aus und nahm das Buch an sich.
Kapitel 19
Lucy las den ganzen Morgen über in Mirandas Tagebuch. Sie hinterließ ihren Eltern eine Nachricht, schaltete ihr Handy aus und ging mit Pierre zu dem einzigen Ort, an dem sie wenigstens für ein paar Stunden allein sein konnte. Es war der Rasenplatz vor der Sporthalle der Highschool in der Nähe der 400 -m-Bahn. Dort, im Schatten einer alten Eiche, war sie ungestört. Während sie las, lief Pierre auf dem Rasen herum oder kam zu ihr und schmiegte sich zufrieden hechelnd an sie.
Zach hatte recht gehabt. Es war Mirandas Tagebuch. Die Einträge begannen mit der Entdeckung der Schwangerschaft und endeten ein paar Tage vor Lucys Geburt, ein Zeitraum von etwas mehr als acht Monaten.
Mirandas Schreibstil war anschaulich und klar. Ihre Geschichte vom durchgebrannten schwangeren Teenager entsprach in gewisser Weise genau Lucys Erwartungen und enthielt Details über Verrat und Angst. Sie handelte aber auch von Freude, Hoffnung und Liebe– Gefühle, die in Miranda hochkamen, als sie es am wenigsten erwartete.
Aufgrund von Soledads Berichten über ihre Arbeit wusste Lucy, dass Mirandas Erfahrungen während ihrer ungewollten
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