Fluch von Scarborough Fair
Schwangerschaft keine Seltenheit waren. Aber deshalb waren sie nicht weniger ergreifend. Und deshalb war Lucys eigene Erfahrung bei der Lektüre von Mirandas Tagebuch so viele Jahre später und in Kenntnis dessen, was hinterher mit Miranda passiert war, nicht minder schwierig.
Mit zitternder Hand blätterte sie die Seiten um. Manchmal musste sie für ein paar Minuten mit dem Lesen aufhören und eine schnelle Runde auf der Bahn drehen, wobei Pierre neben ihr hertänzelte. Da Lucy das Tagebuch nicht weglegen wollte, hielt sie es beim Laufen mit einer Hand umklammert. Anschließend kehrte sie keuchend und mit heftig pochendem Herzen zu ihrem Baum zurück und schlug das Tagebuch wieder auf.
Auf eine Enthüllung über Mirandas mysteriöse Vergangenheit folgte die nächste. Manches war bedeutend, manches unbedeutend. Einiges war ganz offen niedergeschrieben, anderes musste erst aus dem Gesagten und Ungesagten zusammengestückelt werden.
An manchen Stellen war die Chronologie des Tagebuchs lückenhaft, und Lucy fiel auf, dass Seiten herausgerissen waren. Aber es handelte sich nur um wenige, und verglichen mit den kostbaren vorhandenen Seiten schienen sie eher unwichtig.
Lucy erfuhr, was Leo und Soledad schon lange vermutet hatten: dass Miranda keine Eltern gehabt hatte, die sich um sie kümmerten, sondern in einer Pflegefamilie aufgewachsen war. Ihre Pflegeeltern nannte sie nur SIE. Miranda mochte SIE nicht, und SIE mochten Miranda nicht. Nachdem Lucy das gelesen hatte, starrte sie nachdenklich vor sich hin. Welch seltsamer Zufall, dass auch sie in einer Pflegefamilie lebte. Doch in ihrem Fall war alles anders, denn sie wurde geliebt. Lucy hätte Soledad und Leo nie einfach SIE genannt.
In dem Tagebuch wurde mit keinem Wort erwähnt, was mit Mirandas leiblichen Eltern passiert war, und in Bezug auf Lucys Vater gab es auch nur ein paar versteckte Andeutungen.
Beim Lesen wurde Lucy klar, dass das Tagebuch nicht nur eine Chronik von Mirandas Schwangerschaft war, sondern auch eine Chronik ihrer sich allmählich entwickelnden Verrücktheit. Somit wurde Lucy beim Lesen Zeugin des ganzen Dramas.
Das war unsagbar schmerzlich.
An einer Stelle schrieb Miranda über einen uralten Fluch und drei unmögliche Aufgaben, die sie erfüllen musste. Zwei- oder dreimal erwähnte sie einen Elb oder Elf, als ob solche Wesen tatsächlich existierten. Lucy überflog dieses lächerliche Zeug, das ihr innerlich wehtat. Bei einem Tagebucheintrag hielt sie jedoch inne. Es handelte sich nur um einen einzigen Satz, der bis zum Ende der Seite ständig wiederholt wurde und an die Strafarbeit eines Viertklässlers erinnerte:
Ein Zauberhemd ohne Nadel, Saum und Naht
Ein Zauberhemd ohne Nadel, Saum und Naht
Ein Zauberhemd ohne Nadel, Saum und Naht
Beim Lesen machte es in Lucys Kopf plötzlich Klick. Das war aus dem Lied, dem Familienlied, » Scarborough Fair«. In ihrer Verrücktheit schien Miranda geglaubt zu haben, dass die Anweisungen in der Ballade für sie bestimmt waren. Persönliche Instruktionen.
Sie soll mir ein Zauberhemd fertigen.
Wow, Junge, Junge!
Lucy fragte sich, ob sie nach dieser Erkenntnis überhaupt weiterlesen konnte. Aber dann sagte sie sich: Wenn sie mit dem Wahnsinn leben kann, kann ich auch darüber lesen. Ich verdanke Miranda so viel.
Vielleicht war Miranda schon verrückt, bevor sie schwanger wurde, überlegte Lucy. Vielleicht wurde sie so geboren. Vielleicht wurde sie verrückt, weil sie ohne Eltern aufwuchs, die sie liebten. Oder vielleicht haben ihr die Schwangerschaft und das Alleinsein den Rest gegeben.
Lucy biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die vernünftigeren Eintragungen. Von den verrückten gab es zum Glück relativ wenige.
Neben Wahnsinn und Traurigkeit enthielt das Tagebuch aber auch eine wunderschöne Geschichte, die Geschichte von Mirandas Beziehung zu der einzig wahren Freundin, die sie je hatte. Soledad.
Lucy las mit großem Interesse über ihre Pflegemutter. Zunächst war Miranda gegenüber einer möglichen Freundin misstrauisch gewesen, denn sie war von dem Mädchen namens Kia, welches sie am Anfang des Tagebuchs erwähnt hatte, bitter enttäuscht worden. Als Miranda Kia von ihrer Schwangerschaft erzählte, riet diese ihr zu einer Abtreibung, und als Miranda diesen Vorschlag zurückwies, wandte sich Kia von ihr ab. Sie wollte Miranda einfach nicht verstehen.
An dieser Stelle sah Lucy wieder vom Tagebuch auf und stützte ihr Kinn in die Hand. Sie musste zugeben, dass sie Kia
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