Fluch von Scarborough Fair
etwas, das Lucy nicht laut aussprach. » Miranda wusste, dass wir uns um dich kümmern würden. Sie hat dich eigentlich nicht im Stich gelassen. Und auf ihre Weise hatte sie seitdem immer ein Auge auf dich, indem sie hin und wieder vorbeikam. Irgendwann baten wir sie dann, dich zur Adoption freizugeben. Seit damals hab ich mich immer wieder gefragt, ob sie so reagierte, weil sie dich nicht verlieren wollte.«
» Das könnte sein.« Auf einmal brauchte Lucy dringend ein Glas Wasser, aber sie fühlte sich in diesem Moment zu schwach, um es sich zu holen.
» Du siehst blass aus, Lucy«, bemerkte Soledad.
» Es war ein seltsamer Tag.«
» Ich weiß«, sagte Soledad. » Es waren eine Menge seltsame Tage.« Sie ging zu Lucy, schloss sie in ihre Arme und drückte sie ganz fest, als ob das helfen würde.
Und wie durch ein Wunder half es tatsächlich. Lucys Übelkeit verschwand, und sie umarmte Soledad ebenfalls. Dann kam noch Leo dazu und sie umarmten sich alle drei. Lucy fing an zu lachen, und obwohl es ein wenig hysterisch klang, stimmten die anderen in ihr Lachen ein.
Sie waren eine Familie.
Nach den gegenseitigen Umarmungen ging Lucy zum Kühlschrank, um sich kaltes Wasser zu holen. Obwohl sie keinen Hunger hatte, fragte sie über die Schulter hinweg: » Wer kocht heute Abend?«
» Zach«, erwiderte Leo. » Das heißt, wir müssen warten, bis er nach Hause kommt. Aber das wird nicht mehr lange dauern, und dann muss er gleich loslegen.«
» Es gibt bestimmt Spaghetti und Knoblauchbrot«, prophezeite Lucy.
» Du kannst es natürlich viel besser«, meinte Soledad lächelnd. » Aber wir wechseln uns nun mal ab. Und mal ganz ehrlich, ich bin doch die Einzige hier, die wirklich vernünftig kocht.« Sie hatte sich wieder hingesetzt und betrachtete das lila Tagebuch, das Lucy auf dem Küchentisch hatte liegen lassen. Soledad streckte die Hand aus und legte sie ganz sachte auf das Buch. » Ich frage mich, wo Miranda jetzt ist.«
Niemand antwortete.
Kapitel 21
Beim Abendessen trafen sich Zachs und Lucys Blicke. Ohne dass Zach ein Wort sagte, wusste Lucy, dass er sie nach dem Tagebuch fragen wollte. Das war verständlich, und sie war ihm eine Auskunft schuldig. Schließlich hätte er es auch selbst lesen können. Obwohl Lucy am liebsten wieder allein gewesen wäre, half sie Zach freiwillig beim Aufräumen der Küche, während Soledad sich eine DVD anschaute und Leo zu einem Auftritt ging. Da die Geschirrspülmaschine mal wieder kaputt war, spülte Zach das Geschirr und Lucy trocknete es ab.
Lucy war erstaunt, dass Zach sich nicht gleich nach dem Tagebuch erkundigte, sondern nach ihrem Befinden.
» Bist du okay, Luce?«, fragte er leise. » Es sieht zwar so aus, aber ich wollte lieber mal nachfragen.«
» Ich… Ja, ich bin okay.«
» Hast du deinen Eltern von dem Tagebuch erzählt? Beim Abendessen hat keiner was gesagt, und ich wollte nicht fragen. Mir ist dabei mal wieder klar geworden, dass sie nicht meine Eltern sind und dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern sollte. Aber– ich weiß nicht, vielleicht war es die Art, wie Soledad dich beobachtete, als sie dachte, du würdest es beim Essen nicht bemerken. Du hast übrigens kaum was gegessen, und sie wird dich deswegen später bestimmt noch nerven.«
» Du nicht?«, erwiderte Lucy schlagfertig. Sie wollte Zach gegenüber nicht zugeben, dass sie deshalb nichts gegessen hatte, weil das Fleisch in seiner Spaghettisoße so unangenehm roch. Alle anderen hatten es gegessen, nur Lucy hatte sich mit trockenem Brot begnügt.
» Kurz bevor du nach Hause kamst, hab ich ihnen von Mirandas Tagebuch erzählt. Ich habe heute den ganzen Tag darin gelesen.« Sie zögerte. » Ich hab ihnen aber noch nicht gesagt, dass sie es lesen könnten. Ich brauche Zeit, um das alles selbst zu begreifen und um es noch mal zu lesen. Manche Stellen hab ich nur überflogen. Alles auf einmal war zu viel.« Die herausgerissenen Seiten oder die verrückten Passagen erwähnte sie nicht. Lucy nahm Zach einen Teller aus der Hand und trocknete ihn ab.
» Lass dich von ihnen nicht unter Druck setzen«, riet ihr Zach. » Vor allem nicht von Soledad. Sie meint es zwar gut, aber du weißt ja, sie müssen es nicht lesen, wenn du den Inhalt lieber für dich behalten willst. Okay?«
» Sie lieben mich«, sagte Lucy. Inzwischen waren sie beim Geschirrspülen in einen bestimmten Rhythmus verfallen.
» Trotzdem musst du deine eigenen Entscheidungen treffen. Mirandas Tagebuch und sein Inhalt gehören
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