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Fluch von Scarborough Fair

Fluch von Scarborough Fair

Titel: Fluch von Scarborough Fair Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Werlin
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übers Gesicht laufen ließ, rührt der Wahnsinn auch einfach daher, dass man versucht, die Aufgaben zu erfüllen.

Kapitel 37
    Das Esszimmer hatte sich in einen Werkraum verwandelt. Der Tisch stand jetzt an der Wand, die Hälfte der Stühle war aus dem Zimmer entfernt und stattdessen war ein Stuhl aus der Küche hineingetragen worden, und zusätzliche Stehlampen aus anderen Räumen sorgten für mehr Licht. Als Lucy ins Zimmer kam, lag auf dem Tisch jede Menge lose gekämmte Wolle in verschiedenen Farben und Stärken, mehrere Rollen silbergraues Klebeband, zwei oder drei aus Leos Kleiderschrank geklaute Herrenhemden, eine große Schneiderschere, ein paar Cuttermesser und viele kleine flache Filzstücke, die Soledad während ihrer Versuchsphase aus den Wollproben gefertigt hatte. Außerdem stand da noch ein großer Pappkarton voller sehr feiner karamellfarbener gekämmter Lammwolle, die Soledad für zwei Dollar das Pfund online bestellt hatte. Die Wolle war vor zwei Tagen von Federal Express geliefert worden, und Lucy hatte gleich geahnt, dass sie für das nahtlose Hemd bestimmt war. Als Soledad ein Wollknäuel aus dem Karton genommen hatte, bekam sie einen vagen Eindruck von Schönheit und Weichheit, aber der Gedanke, damit zu arbeiten, hatte ihr aus irgendeinem Grund Angst gemacht.
    Im Moment dominierte der lebensgroße Plastiktorso einer männlichen Schaufensterpuppe den Werkraum. Bei näherer Betrachtung musste Lucy ihre Vorstellung davon, was gruselig war und was nicht, korrigieren. Die Schaufensterpuppe hatte einen bronzefarbenen Teint und wohlgeformte Muskeln. Der Torso war auf einen wackeligen, hölzernen Beistelltisch montiert, der normalerweise im Keller stand, und hatte weder Kopf noch Beine, aber Arme und Hände mit exakt nachgebildeten Fingern und Fingernägeln. Jemand hatte blassrosa Lack auf die Fingernägel aufgetragen.
    » Ih!«, machte Lucy angewidert.
    » Ursprünglich hatten wir ja geplant, dass du mit Klebeband eine Schneiderbüste machst und sie mit Watte ausstopfst«, meinte Soledad. » Aber jetzt konnte ich mir diese Schaufensterpuppe aus dem Gebrauchtwarenladen in der Moody Street ausleihen. Nur für heute, aber das müsste reichen. Darüber bin ich sehr erleichtert, denn aus Klebeband eine Schneiderpuppe zu machen, wäre ein ziemlich großer Aufwand gewesen. Aber das Hemd muss auf jeden Fall auch die Form eines Hemdes haben, das heißt, wir kommen nicht umhin, es einer Schaufensterpuppe oder Schneiderbüste anzupassen. Aber das weißt du ja alles.«
    » Ja. Aber es ist gut, dass wir noch mal darüber reden.«
    Während sie sprachen, kam Zach mit einem Glas Milch in der Hand ins Zimmer. Er stellte sich neben Lucy und betrachtete die Puppe.
    » Halt die Klappe«, sagte Lucy, ohne ihn anzusehen.
    » Ich hab doch gar nichts gesagt.«
    » Aber gedacht.«
    » Der Nagellack ist schon was Besonderes.«
    » Du sprichst von meiner wahren Liebe«, meinte Lucy. » Ich werde ihm ein Hemd machen ohne Nadel, Saum und Naht.«
    » Ich weiß.«
    Da war etwas in seiner Stimme. Lucy drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Ganz automatisch.
    Zach hatte nur rasch eine Jeans übergezogen, bevor er nach unten gegangen war; sein Oberkörper war nackt. Lucy erkannte plötzlich, dass die Muskeln des männlichen Torsos nur eine groteske Imitation waren. Echte Muskeln waren geschmeidig, mit Sehnen durchzogen, lebendig und warm. Lucy beobachtete dieses unglaubliche Zusammenspiel der Muskeln, als Zach das Glas Milch an die Lippen setzte und es halb austrank. Beim Schlucken dehnten und bewegten sich zuerst die Nackenmuskeln, dann setzte sich das Muskelspiel über die Schultern fort und schließlich wölbten und spannten sich sein Bizeps und sein Unterarm, was mit dem Heben und Senken des Glases zu tun hatte.
    Ein Glas Milch, dachte sie benommen. Das ist alles. Er trinkt nur ein Glas Milch. Nichts Besonderes…
    Lucy schluckte trocken.
    » Soll ich dir auch ein Glas Milch holen?«, fragte Zach. Bildete sie sich das nur ein oder lag da tatsächlich ein gewisser Spott in seiner Stimme? Aber da war noch etwas anderes– wenn sie den Mut gehabt hätte, ihm in die Augen zu schauen, hätte sie gewusst, was es war, aber sie traute sich nicht. Nicht jetzt.
    Sie konnte den Blick nicht von seinem Körper abwenden.
    Und sie konnte nicht antworten, obwohl sie es versuchte. Sie wollte etwas sagen. Etwas Lustiges. Vielleicht einen Witz machen oder so was. Aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, viel weniger einen aussprechen. Und

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