Fluch von Scarborough Fair
sie festgestellt, dass die psychiatrische Klinik ganz anders war, als sie erwartet hatte. Das Gelände erinnerte fast an einen College-Campus mit großen Rasenflächen, die im Sommer sicher grün und üppig bewachsen waren und die jetzt durch das leuchtend bunte Herbstlaub noch eindrucksvoller aussahen. Hier und da standen kleine und mittelgroße Gebäude, einige davon waren stattliche efeuumrankte Backsteingebäude, andere wiederum sahen aus wie ganz normale Wohnhäuser. Wege verliefen kreuz und quer über den Rasen.
Sie gingen auf ein massives Backsteingebäude mit weißem Säulengang zu. Die Frau in Beige erklärte, dass es hier nur Privatzimmer gäbe, jedes mit eigenem Bad, und dass die Patienten alle unter » Verhaltensstörungen« litten. Das war nur eine hohle, nichtssagende Phrase. Aber Lucy vermutete, dass es auch genau das sein sollte.
Sie fragte sich, was die Frau in Beige wohl denken würde, wenn sie erklärte: » Das Problem meiner Mutter ist, dass unsere Familie vor langer Zeit von einem dämonischen Elf verflucht wurde.«
Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie derlei Dinge in Gegenwart anderer äußerte? Es konnte jederzeit passieren. Oh, aber nicht gegenüber Fremden. Jedenfalls nicht, bevor sie endgültig den Verstand verloren hatte. Aber vielleicht gegenüber Sarah. Sarah, die genau zu wissen glaubte, was Lucy gerade durchmachte, die alles tat, was eine gute Freundin tun konnte, und das in völliger Unkenntnis. Es tat weh, Sarah nicht absolut vertrauen zu können.
Aber es ging nicht anders. Lucy musste auf ihren guten Ruf achten– den Ruf, einen gesunden Verstand zu haben–, so wie eine Frau vor hundert Jahren ihre Tugendhaftigkeit bewahren musste. Bei allem, was sie sagte und tat, war sie sich dessen über alle Maßen bewusst. Denn andernfalls würden die Leute später dann sagen: » Weißt du, damals war es mir egal, aber heute erinnere ich mich, dass Lucy dies oder jenes getan hat. Ist das nicht merkwürdig?« Dieser Gedanke allein genügte schon, um verrückt zu werden, auch wenn man nicht unter dem Fluch eines dämonischen Elfen stand.
Aber wenigstens konnte sie mit ihrer Familie über alles reden, und das würde sie davor bewahren, den Verstand zu verlieren.
Und dann gab es ja noch Zach.
Obwohl sie das wärmende Glücksgefühl überraschte, das ihren Körper beim Gedanken an ihn durchströmte, genoss sie es. Zach wusste über alles Bescheid, und er liebte sie und wollte sie heiraten. Er wollte ihr helfen, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten.
Lucy folgte der Frau in das Gebäude und eine Treppe hinauf. Sie wurde einer anderen Frau in Jeans vorgestellt, auf deren Namensschild » Janis« stand. Als Lucy sich zum Gehen wandte, lächelte die Frau in Beige sie an und fragte mit gesenkter Stimme: » Genügt eine halbe Stunde?«
» Was?«
» Reicht Ihnen eine halbe Stunde, um mit Ihrer Mutter allein zu sein?«, wiederholte sie mit einem mitfühlenden Blick. » Wenn Sie wollen, kann ich Ihre Pflegeeltern ungefähr eine Stunde hinhalten.«
Lucy wurde rot. » Eine halbe Stunde ist okay. Sie sind sehr freundlich. Danke.«
» Keine Sorge. Dr. Sabada wird auch bald kommen, nur damit Sie Bescheid wissen.«
» Hier entlang«, sagte Janis.
Lucy folgte ihr den Flur hinunter zu Zimmer 211 . Unter der Zimmernummer befand sich ein Schild mit der Aufschrift MIRANDA SCARBOROUGH. Die Tür stand offen.
» Ihre Mom ist sehr ruhig«, sagte Janis. » Aber das ist kein Wunder; sie hat ein leichtes Sedativum bekommen. Ich lasse Sie jetzt mit ihr allein. Sie können Bescheid geben, wenn Sie jemanden brauchen; neben dem Bett befindet sich ein Summer. Ich lass die Tür offen, okay?«
» Okay«, erwiderte Lucy, und Janis verschwand. Lucy biss sich auf die Lippe, klopfte leise an die offene Tür und betrat das Zimmer.
Miranda lag zur Seite zusammengerollt auf einem Doppelbett, mit dem Rücken zur Tür und bis zu den Schultern mit einer leichten Decke zugedeckt. Ihr dunkles Haar fiel weich auf das Kissen. Es war länger als Lucy es in Erinnerung hatte, und jemand hatte es so stark gebürstet, dass es seidig glänzte. Dafür hatte es jetzt viel mehr graue Strähnen als früher.
» Miranda?«, fragte Lucy zögernd. » Ähm, Mutter? Ich bin’s, Lucy.«
Miranda rührte sich nicht. Lucy ging ein paar Schritte weiter ins Zimmer hinein. Es war hier ganz anders, als Lucy es sich nach Soledads Beschreibung vorgestellt hatte. Das Zimmer war zwar blitzsauber, aber nur spärlich eingerichtet, und die Wände
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