Fluch von Scarborough Fair
waren kahl. Lucy musste daran denken, wie Miranda im vergangenen Juni den Inhalt ihres Einkaufswagens als Wurfgeschoss benutzt hatte. An einem Ort wie diesem gab es vermutlich nichts, was als Waffe dienen konnte.
Unwillkürlich verglich Lucy den Raum mit ihrem eigenen Zimmer zu Hause, das früher einmal Mirandas Zimmer gewesen war. Der Schrank und die Kommode voller Kleider und Schuhe; ihr alter Teddybär; ihre Poster und Fotos; Computer, Musik, Bücher und Schmuck. Sicher, all diese Dinge konnten einem keine Sicherheit bieten. Aber eigene Dinge um sich zu haben, war auch nicht gerade unwichtig.
Miranda hatte nichts Eigenes.
Außer mir, dachte Lucy.
Dieser Gedanke half ihr, weniger Angst zu haben. Sie wusste, dass sie das Richtige tat, wenn sie jetzt allein mit ihrer Mutter war, wenn auch nur für ein paar Minuten.
Lucy ging um das Fußende des Bettes herum und hockte sich seitlich neben das Bett, sodass ihr Gesicht auf gleicher Höhe mit Mirandas war. Sie beobachtete, wie sich die Bettdecke mit jedem Atemzug Mirandas hob und senkte.
Mirandas Augen waren geschlossen. Ihr Gesicht war gebräunt und gerötet, weil es bei jeder Witterung der Sonne und dem Wind ausgesetzt war. In den Augen- und Mundwinkeln zeigten sich kleine Fältchen. Aus der Nähe betrachtet hatte Miranda fast dieselbe Nase und denselben Mund wie ihre Tochter. Und Lucy konnte sich ganz gut vorstellen, eines Tages selbst mit Medikamenten vollgepumpt in einem unpersönlichen Zimmer eingesperrt zu sein.
Ich bin in der zwanzigsten Woche, dachte Lucy. Von insgesamt vierzig. Sie legte die Hand auf ihren Bauch und spürte, wie das Baby strampelte.
» Miranda?«, sagte Lucy noch einmal.
Mirandas Augen öffneten sich. Ihr Blick war weder vom Schlaf noch vor Erstaunen getrübt, und sie sah Lucy direkt ins Gesicht. Sie schien ihre Tochter nicht zu erkennen, aber sie verhielt sich auch nicht feindselig. Lucy entspannte sich etwas.
» Hallo«, flüsterte Miranda versonnen.
» Hallo.« Lucy versuchte zu lächeln. Miranda lächelte nicht zurück, sondern schloss die Augen wieder.
» Miranda! Mom!«
Miranda schlug die Augen erneut auf und sagte nur: » Ich bin müde.«
» Ich auch«, antwortete Lucy. » Ich hab die letzten Tage nicht gut geschlafen.«
Miranda blinzelte sie an. Das Bild vor ihren Augen schien sich ein wenig zu schärfen. Dann rutschte sie etwas zur Seite und strich mit der Hand über die freie Betthälfte, was als Aufforderung zu verstehen war: Auf dem Bett war genug Platz für Lucy.
Nach kurzem Zögern legte sie sich, das Gesicht zu Miranda gewandt, aufs Bett. Der Abstand zwischen ihren Körpern betrug nur wenige Zentimeter, und ihre Nasen berührten sich fast. Lucys Herz pochte wie wild.
Und das Baby in ihrem Bauch war hellwach und strampelte.
Lucy griff spontan nach Mirandas Hand. Für sie war das ganz selbstverständlich. Miranda sträubte sich zuerst, beruhigte sich dann aber, und Lucy führte die Hand ihrer Mutter zu ihrem Bauch.
» Spürst du das Baby?«, flüsterte Lucy. » Sie versucht sich umzudrehen. Das kann sie schon ganz gut. Sie wiegt jetzt ungefähr drei Pfund und ist über dreißig Zentimeter groß. Und sie hat eine Lunge.«
Mirandas Augen schlossen sich wieder, als wollte sie sich in sich selbst zurückziehen, da sie physisch nicht dazu imstande war. Doch auf einmal bewegte sich Mirandas Hand auf Lucys Bauch. Zuerst nur ein wenig, aber dann streichelte sie ihn sanft und fühlte das Baby.
» Ich weiß, was du für mich getan hast, Mom«, flüsterte Lucy. » Jetzt begreife ich es. Du hast mich in dir getragen, so wie ich jetzt meine Tochter in mir trage. Du hattest Angst, genau wie ich, aber du hast trotzdem alles für mich getan, was dir möglich war. Du hast mir sogar Eltern besorgt, die sich um mich kümmerten, als du es nicht mehr konntest. Du warst eine gute Mutter. Ich kann nur hoffen, dass ich für mein Baby auch mal die richtigen Entscheidungen treffen werde. Ich werde es jedenfalls versuchen und tun, was ich kann. Und selbst wenn ich es nicht schaffe– du weißt schon, wenn es mit diesem Fluch tatsächlich etwas auf sich hat und es keinen Ausweg für mich gibt–, besteht für sie immer noch Hoffnung, oder? Wir können hoffen, so wie du gehofft hast.
Und mir ist noch was klar geworden, Mom. Ich liebe dich. Nun, da ich weiß, was passiert ist und was du trotz allem für mich getan hast, liebe ich dich. Und ich werde dich immer lieben.«
Lucy betrachtete das Gesicht ihrer Mutter und erwartete eine
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