Fluch von Scarborough Fair
Sie kamen alle fünfzehn Minuten. Und ein Blick auf das Meer sagte ihr, dass die Flut nahte. Das Wasser war zwar noch viele, viele Meter entfernt, aber dies war die Bay of Fundy; hier kam die Flut sehr schnell. Doch sie konnte es schaffen. Sie würde es schaffen. Die Kontraktionen waren bestimmt nur Vorwehen. Sie würde mit dem Pflügen fertig sein, bevor die Flut kam.
Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, bevor sie die Vision hatte.
Kapitel 53
Als Erstes sah Lucy ein Paar Füße. Die Füße waren klein und zierlich und steckten in Schuhen– genauer gesagt in feinsten Pantoffeln. Sie liefen vorne spitz zu, hatten ein gewölbtes Schuhblatt und schienen ganz aus feinem Seidengarn gewebt zu sein, in Farben, die etwas an die Rot- und Goldtöne des Herbstlaubs erinnerten. Wenn man diesen Schuh betrachtete, begriff man, dass man noch nie ein schöneres Rot und Gold gesehen hatte, und dass ein richtiger Schuh knapp über der Erde schweben und den Fuß einer Dame ebenso exquisit zur Schau stellen sollte wie dieser.
Beim Anblick der Schuhe verspürte Lucy ein brennendes Verlangen. Wenn sie sich nicht an dem selbst gebauten Schubkarrenpflug festgehalten hätte, wäre sie auf die Knie gesunken.
Sie ahnte, dass es nicht wirklich an den Schuhen lag; eigentlich war Sarah ganz wild auf Schuhe, nicht Lucy. Hoffentlich war das nur eine Halluzination. Das wäre kein Wunder, denn sie hatte schon so lange so hart gearbeitet und war erschöpft. Außerdem hatte sie keine Braxton-Hicks-Kontraktionen mehr, sondern richtige Wehen. Das Baby würde sicher bald kommen.
Wäre Lucy zu Hause, und würde sie ein normales Leben führen, dann wäre es jetzt an der Zeit, ins Auto zu steigen und zum Krankenhaus zu fahren.
Aber bei Lucy war nichts normal.
Lucy hob den Blick, um auch noch den Rest der Vision zu sehen. Zu den Füßen gehörten Beine, und die Beine gehörten zu einer Frau. Die Frau war schlank und dunkelhaarig und trug ein hauchdünnes Kleid in Rot, Braun, Grün und Gold.
Als Lucy das Gesicht sah, schnappte sie nach Luft. Es war nicht das einzelne Gesicht einer Frau, sondern es waren ständig wechselnde Gesichter. Noch ehe sie einen Blick von dem Gesicht erhaschte, das sie kannte– Mirandas–, wusste sie, dass es sich um die Gesichter ihrer Ahnen handelte. Selbst als sich ihr der Magen umdrehte und sie sich bemühte, ihre Abscheu in den Griff zu bekommen, fragte sie sich, welches Gesicht wohl Fenella gehörte, dem ersten Scarborough-Mädchen.
Lucy hoffte, dass das, was sie sah, eine Illusion war, und nicht real. Es musste einfach so sein, oder?
Für einen kurzen Moment durfte sie noch einen Blick auf die miteinander verschmelzenden Frauengesichter werfen, die auf entsetzliche Weise auf einem einzigen Körper gefangen waren. Dann wurde ihr Blick von dem Elfenritter gefesselt und beherrscht, der sich selbst Padraig Seeley genannt hatte. Sein in Seide gehüllter Arm lag um die Taille der unheimlichen Schönen, die neben ihm stand. Seine schwarzen Stiefel stellten ihre exquisiten Pantoffeln in den Schatten.
Lucy griff nach ihrem Pflug und machte rasch eine Atemübung. Sie dachte an ihr Baby und an Zach, der irgendwo in der Nähe war. Aber das spielte keine Rolle; er hätte genauso gut auf dem Mond sein können, denn Lucy wusste instinktiv, dass er nichts von dem mitbekam, was sie sah.
Ihre eigene Welt hatte sich verengt, und sie sah nur noch den Elfenritter, der in einem magischen Raum vor ihr stand, abgetrennt von dem heulenden Wind und dem heftigen Eisregen, dem Lucy ausgesetzt war. Sie sollte sich dem Elfenritter und seinen Frauen anschließen und Teil seiner Sammlung werden.
Und ihre Töchter sind auf ewig mein.
Wann würde das geschehen?, fragte sich Lucy. Wenn sie wahnsinnig wurde? Oder wenn sie tot war? Sie betete, dass sie es nie erfahren würde. Aber wahrscheinlich war das unvermeidbar.
Ohne den Blick von Lucy abzuwenden, streichelte der Elfenritter mit einer Hand die Schulter der Frauengestalt, die er im Arm hielt. Ihre unzähligen Augen ruhten nur auf Lucy. Die Blicke waren leer, und Lucy wünschte, sie müsste nicht hinsehen.
Aber sie war es den Frauen schuldig, sie anzusehen, und sie tat es, solange sie es ertragen konnte.
Der Elfenritter lächelte Lucy an und zeigte dabei seine strahlend weißen Zähne. » Ich hab dir ja gesagt, dass wir uns bald wiedersehen würden, Lucinda.«
Jetzt sah sie ihn an. » Ich weiß.« Sie erinnerte sich auch an die schrecklichen Worte, die er über Zach und über ihr Baby
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