Flucht aus dem Harem
Kapitän und überließ Justin wieder seinen Gedanken.
Alles war so überstürzt vor sich gegangen, dass er sich nicht gebührend von Daoud verabschieden konnte. Daoud Aga, ein nubischer Eunuch, den der alte Pascha zu seinem Kerkermeister bestimmt hatte. Über die Jahre war dieser Mann die einzige Person gewesen, die Justin täglich sah, und eigenartigerweise war zwischen ihnen statt der üblichen hasserfüllten Bewacher-Gefangenen-Beziehung eine von beiderseitigem Respekt getragene Freundschaft entstanden.
Daoud hatte ihn nicht nur seine Sprache gelehrt, sondern auch in anderer Hinsicht dafür gesorgt, dass sein Geist ständig gefordert wurde. Er hatte ihn zu einem regelmäßigen Tagesablauf angehalten, ihn zu körperlichen Übungen ermutigt und ihn aufgefangen, wenn sich die Aussichtlosigkeit seiner Lage in Aggression oder Depression verwandelte. Mit einem bösartigeren oder auch nur gleichgültigeren Wächter wäre er weder körperlich noch seelisch in jenem Zustand, in dem er sich jetzt befand. Die Wahrscheinlichkeit, nach zehn Jahren Einzelhaft als geistiger Krüppel zu enden, war wesentlich höher als jene, bei klarem Verstand zu bleiben. Deshalb hätte er Daoud Aga gerne gebührend gedankt.
Justin senkte den Kopf, denn die Sonnenstrahlen, die er zuerst als angenehm empfunden hatte, begannen seine blasse, lichtentwöhnte Haut zu verbrennen. Auch seine Handrücken waren bereits gerötet. In seiner Erinnerung tauchte ein verschwommenes Bild auf.
„ Justin, nimm das Tuch, du musst damit dein Gesicht schützen, hier brennt dir die Sonne Löcher in die Haut.“ Die Stimme seiner Mutter durchdrang die flirrende Helligkeit um ihn herum. „Oder du gehst zurück ins Zelt und wartest, bis es Abend ist.“
Sie hielt ihm das Baumwollstück hin, aber er schüttelte den Kopf. „Brauch ich nicht. Ich will doch nur eine halbe Stunde ausreiten und sehen, ob Vater etwas gefunden hat.“ Ohne sich umzudrehen galoppierte er davon. Hinter sich hörte er seine Mutter zornig rufen: „Warte, Justin, so warte doch.“
Aber er hatte nicht gewartet, welcher Vierzehnjährige, der an der Schwelle zum Mann stand, hätte in dieser Situation schon auf seine Mutter gehört? Allerdings wusste er zu diesem Zeitpunkt auch nicht, dass er die Stimme seiner Mutter zum letzten Mal gehört hatte. Und dass er seinen Vater nicht lebend antreffen würde.
Mit einem tiefen Seufzen verdrängte er die Erinnerung. Viel zu lange Zeit hatte er in Erinnerungen gelebt. Jetzt musste er sich damit anfreunden, an die Zukunft zu denken.
Die Haut über seinen Fingerknöcheln brannte und er beschloss, in seine Kabine zu gehen. Im Verlauf der Reise würde er noch genug Gelegenheit bekommen, sich an die Sonne zu gewöhnen.
Da die „Sea Witch“ ein Frachtschiff war, gab es außer der Kabine des Kapitäns nur noch eine weitere, und in dieser hatte man ihn untergebracht. Der Raum war niedrig und kleiner als das Gemach, in dem er die letzten zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Aber es gab einen unübersehbaren Vorteil – er konnte jederzeit die Tür öffnen und die Kabine verlassen, wann immer er Lust dazu verspürte.
Licht fiel durch zwei kleine Bullaugen in den Raum und verwandelte die in der Luft hängenden die Staubteilchen in glitzernden Goldnebel.
Justin ließ sich aufs Bett fallen und sah sich um. Außer einem unter dem Bullauge stehenden Tisch samt Stuhl gab es nur einen massiven Wandverbau aus Holz, in dem eine Waschschüssel aus Porzellan vor einem fleckigen Spiegel untergebracht war. Davor stand ein wackeliger Hocker. Die wenigen Kleidungsstücke, die er mitgenommen hatte, lagen noch immer in der mit aufwendigen Schnitzereien verzierten Truhe aus dem Palast. Beim Durchstöbern der Laden hatte er einige alte Zeitungen und ein paar Bücher gefunden, die einer seiner Vorgänger hier zurückgelassen haben musste.
Justin streckte sich auf dem Bett aus und verschränkte die Arme unter dem Kopf. Mit geschlossenen Augen versuchte er sich zu entspannen, aber jeder Nerv in ihm vibrierte. An Ruhe war nicht zu denken. Also starrte er an die Decke und ließ seine Gedanken wandern.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür unterbrach seine Träumerei. Eine völlig in Schwarz gehüllte Gestalt glitt durch den Spalt ins Innere. Da das Bett in der dunkelsten Ecke der Kabine stand, hatte er einen Vorteil gegenüber dem Eindringling, der sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür lehnte und einen Moment unbeweglich verharrte, als müsste er zu Atem kommen.
Justin
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