Flucht aus der Zukunft
massieren. Helaine zuckte bei dem Gefühl zusammen und rutschte angstvoll nach vorne, als sich die unsichtbaren Hände an ihren Hüften zu schaffen machten. Die fein abgestimmten Sensoren spürten ihre Ablehnung und zogen sich zurück.
Sie sah ihren Bruder unsicher an. Quellen schien vor ihr die gleiche Scheu zu haben wie sie vor ihm. Er zupfte sich am Ohr, preßte die Lippen zusammen, knackte mit den Fingerknöcheln. Sie waren sich praktisch fremd. Bei Familienfeiern traf man sich hin und wieder, aber sie hatten sich seit langer Zeit nicht mehr richtig unterhalten. Er war ein paar Jahre älter als sie. Früher waren sie einander sehr nahe gestanden. Sie hatten sich gebalgt und gezankt wie jetzt Marina und Joseph. Helaine konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie als Junge immer neugierig angesehen hatte. Unvermeidlich in der Enge eines Raumes. Er hatte sie an den Haaren gezogen und ihr bei den Hausaufgaben geholfen. Dann hatte seine Ausbildung für den Regierungsdienst begonnen, und er war ihrer Welt fremd geworden. Und nun war sie eine nervöse Hausfrau und er ein geschäftiger Beamter, und sie hatte ein wenig Angst vor ihm.
Ein paar Minuten lang drehte sich das Gespräch um familiäre Dinge. Helaine sprach von den Kindern, von ihrem Leben, von ihren Interessen. Quellen sagte nur wenig. Er war Junggeselle, was die Kluft zwischen ihnen noch vertiefte. Helaine wußte, daß ihr Bruder eine Freundin namens Judith hatte, aber er sprach nur selten von ihr und schien auch nicht sehr oft an sie zu denken. Manchmal hegte Helaine den Verdacht, daß es diese Judith gar nicht gab, daß sie nur eine Tarnung für irgendein heimliches Laster war – homosexuelle Beziehungen vielleicht.
Sie brachte das Geplauder zu einem Ende, indem sie direkt nach Judith fragte. »Wie geht es ihr? Du wolltest uns doch einmal mit ihr besuchen, Joe.«
Quellen sah sie bei der Erwähnung ebenso unbehaglich an wie Norm, als sie ihn wegen des Zettels gefragt hatte. Er antwortete ausweichend. »Ich habe es ihr vorgeschlagen. Sie möchte dich und Norm gern einmal kennenlernen, aber im Augenblick ist es ungünstig. Judith ist mit Kindern etwas nervös. Aber ich bin sicher, daß wir uns noch einmal treffen.« Wieder dieses unsichere, hohle Lächeln. Dann ließ er das heikle Thema fallen und kam zur Sache. »Du hast doch nicht einfach so vorbeigesehen, Helaine?«
»Nein. Ich habe etwas mit dir zu besprechen. Die Nachrichtenbänder sagen, daß du die Nachforschungen über die Zeitreisen leitest.«
»Ja. Das stimmt.«
»Norm will den Sprung machen.«
Quellen richtete sich steif auf. Seine linke Schulter schien etwas höher als die rechte. »Wie kommst du auf die Idee? Hat er dir das selbst gesagt?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich vermute es. Er ist in letzter Zeit so deprimiert, weil er keine Arbeit findet.«
»Das ist nichts Neues bei ihm.«
»Es ist aber schlimmer als zuvor. Du solltest mal seine Gespräche hören. Er ist so verbittert, Joe. Er bringt nur noch Unsinn vor, einfach zusammenhanglose, böse Worte. Ich wollte, du könntest es dir anhören. Über kurz oder lang kommt es bei ihm zum Zusammenbruch. Ich spüre, wie sich sein Ärger staut.« Sie zuckte zusammen. Der Stuhl begann sie wieder zu massieren. »Er hat jetzt seit Monaten keine Arbeit mehr, Joe.«
»Ich weiß«, sagte Quellen. »Die Hohe Regierung arbeitet einen Plan aus, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren.«
»Schön und gut. Aber inzwischen hat Norm nichts zu tun, und ich glaube nicht, daß er es noch lange aushält. Er ist mit den Zeitreise-Agenten in Kontakt, und er wird den Sprung machen. Vielleicht steigt er sogar in diesem Augenblick in die Maschine.«
Ihre Stimme war schrill geworden. Sie konnte das Echo hören. Sie hatte das Gefühl, daß ihre Nerven jeden Augenblick durch die Haut dringen würden.
Quellens Miene hatte sich verändert. Er holte Luft, um sich zu entspannen und beugte sich freundlich vor. Seine Miene war die eines Psychiaters. Helaine erwartete, daß er sagen würde: »Wollen wir nun versuchen, dieser Wahnvorstellung auf den Grund zu gehen?« Statt dessen sagte er sanft: »Vielleicht regst du dich unnötig auf, Helaine. Wie kommst du auf den Gedanken, daß er mit den Verbrechern zusammenarbeiten könnte?«
Sie erzählte ihm von dem Zettel und Norms merkwürdiger Reaktion auf ihre Frage. Als sie den Inhalt zitierte, bemerkte Helaine zu ihrer Überraschung, daß Joes freundlicher Blick einen Augenblick angstvoll wurde. Dann hatte er sich
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