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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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benutzen sie entweder, um nach Katmandu zu fahren und sich dort zu den Arbeitslosen zu gesellen, oder sie bleiben zurück und versuchen, vom Straßenverkehr zu leben, was klappen könnte, wenn nur ein paar es versucht hätten; doch da es nun alle versuchten, konnte es keinem gelingen, und um sie herum zerfielen die Terrassen im Regen.
    Doch ich sagte zu George nie ein Wort darüber. Ich ließ ihn einfach allein, damit er zusehen konnte.
    Eine Stunde später kam die Begleitmannschaft des Busses zum Schluß, daß es an der Zeit für die Weiterfahrt sei, und wir alle stiegen wieder ein, drängten uns auf unsere Plätze und fuhren los, etwa zu der Zeit, da wir an der Endstation eintreffen sollten. Kurz darauf bogen wir nach links auf eine Straße ab, die aussah, als sei sie einem Straßenbaulehrbuch entsprungen, eine schmale Asphaltlinie, auf der an der breitesten Stelle vielleicht zwei Busse nebeneinander Platz hatten, schwarz wie Kohle und völlig eben, mit Betonrinnen und Markierungen und Trägern und Abzugsgräben und dichtem Stacheldraht an den zahlreichen Kurven, die die Straße machte. »He«, sagte George schon wieder fröhlicher. »Die Schweizer waren hier.«
    »Genau«, sagte ich. »Das ist die Straße, die sie bis nach Chhule führen wollen.«
    »Und die Schweizer bauen sie?«
    »Nee, die sind schon fertig. Jetzt baut ein anderer weiter, aber niemand weiß genau, wer.«
    Die scharfen Kurven verliefen wie Nähmaschinennähte über den Hügel, doch trotzdem war die Straße ziemlich steil, und unsere alte Karre konnte sich nur im Schrittempo hinaufwälzen und wurde in den Kurven sogar noch langsamer. Jede Haarnadelkurve verlangte dem Fahrer das Äußerste ab, denn dieser Bus hatte wie alle indischen Busse ein Lenkrad, das man drei- oder viermal drehen mußte, nur, um einem Fels auf der Straße auszuweichen, geschweige denn, eine S-Kurve zu bewältigen. Unser Fahrer mußte sein großes Lasso wie ein Cowboy auf dem Viehtrieb schwingen, während sich einer seiner Assistenten aus der Tür lehnte, um ihm zu sagen, wieviel Platz noch blieb, bevor wir von der Straße und die Schlucht hinab fielen. Das Signalsystem des Assistenten bestand aus Panikrufen unterschiedlicher Intensität, so daß wir jedesmal, wenn wir eine Rechtskurve nahmen, glauben mußten, es sei das Ende; die Hühner unterstützten uns in dieser Auffassung noch. So ging es den ganzen Nachmittag hindurch. Wir gewannen nur an Höhe, so daß wir drei Stunden, nachdem wir das Straßendorf verlassen hatten, noch immer genau auf seine Dächer hinabsehen konnten, eine Tatsache, mit der sich George anscheinend nicht abfinden konnte. »Sieh dir das an«, stöhnte er nach jeder Kurve, »es ist immer noch da.« Doch dann erreichten wir die Wolkendecke und konnten überhaupt nichts mehr sehen.
    Stunden verstrichen, und es wurde dunkler. Der Fahrer starrte über die Abziehbilder auf seiner Windschutzscheibe in dicken Nebel und fuhr mit Telepathie. Mir wurde allmählich richtig warm und behaglich zumute; die Bewegungen des Busses lullten mich ein, als sei ich in einem Teehaus und der Motor ein Ofen. Ich liebe solche Reisen. Ich meine, was macht das Leben denn so schön, wenn man es genau nimmt? Schlechte Tage, wenn Sie mich fragen. Wir waren schließlich auf dem Weg nach Shambhala. Niemand konnte erwarten, daß es einfach sein würde.
    Nachdem George schließlich ebenfalls sämtliche vergänglichen Gefühle hinter sich gelassen hatte, wurde er philosophisch. »Du bringst mich besser zu dem echten Ort«, sagte er.
    »Ist er«, erwiderte ich.
    Er schaute zweifelnd drein. »Ich sehe ja ein, daß ein abgelegenes Tal in den alten Zeiten verborgen bleiben kann, doch wie wollen sie das heutzutage anstellen? Ich meine, wie verhindern sie, daß Satelliten sie aufnehmen?«
    »Gar nicht. Sie sind auf den Satellitenfotos.«
    »Ich dachte, es sei eine geheime Stadt?«
    »Ist es auch, aber heute ist es eher eine getarnte Stadt. Die Regierung in Katmandu weiß, daß es da ist, aber sie glauben, es sei einfach eins ihrer kleinen Hochtaldörfer mit einer tibetanischen Bevölkerung. Jemand aus dem Bezirkspanchajat schaut gelegentlich mal vorbei, und alle sind freundlich zu dem Mann, sagen ihm aber nicht, wo er wirklich ist. Das Kloster sieht gar nicht so bedeutend aus, und wenn Besucher kommen, bleiben die meisten Lamas außer Sicht. Sie bezahlen ihre Steuern, schicken einen Vertreter ins Panchajat und so weiter und werden in Ruhe gelassen wie alle anderen abgelegenen Dörfer

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