Flucht aus Lager 14
Volk gepriesen. Die staatliche Nachrichtenagentur meldete, der neue Führer sei »ein herausragender Denker-Theoretiker und ein unvergleichlich glanzvoller Befehlshaber«, der ein »festes Fundament für das Gedeihen des Landes« sein werde.
Abgesehen von seiner richtigen Abstammung waren die Qualifikationen des Sohnes eher dürftig. Er wurde auf die deutschsprachige Schule in Liebefeld in der Schweiz geschickt, wo er als Point Guard im Basketballteam spielte und Stunden damit verbrachte, den großen Michael Jordan von den Chicago Bulls zu zeichnen. 10 Mit 17 Jahren kehrte er nach Pjöngjang zurück, um die Kim-Il-Sung-Universität zu besuchen. Man weiß kaum etwas darüber, was er dort studiert hat.
Die Vorbereitungen für eine zum zweiten Mal erfolgende Übergabe der Herrschaft vom Vater an den Sohn wurden sichtbar, nachdem King Jong Il 2008 einen Schlaganfall erlitten hatte, wonach der » Geliebte Führer« deutlich erkennbar gehbehindert war und Kim Jong Un aus dem bisherigen Dunkel in das helle Licht der Öffentlichkeit trat.
In Vorträgen vor ausgewähltem Publikum in Pjöngjang 2009 wurde Kim Jong Un als ein »Genie der literarischen Künste« und als ein Patriot geschildert, der »seine ganze Kraft vom frühen Morgen bis in die tiefe Nacht« dafür einsetze, Nordkorea zu einer atomaren Supermacht zu machen. Das Propagandalied »Schritte« wurde auf Militärstützpunkten verteilt, um den Kader auf das Kommen eines dynamischen »Jungen Generals« vorzubereiten. Geboren im Jahr 1983 oder 1984, war er tatsächlich jung.
Im September 2010 wurde das Gesicht des »Jungen Generals« zum ersten Mal offiziell der Welt gezeigt. Er war das Ebenbild seines verstorbenen Großvaters Kim Il Sung, der zu allen Zeiten beliebter gewesen war als Kim Jong Il.
Diese frappierende Ähnlichkeit wirkte sorgfältig abgestimmt, als Kim Jong Un nach dem Tod seines Vaters daranging, seine Macht zu festigen. Seine Kleidung und sein Haarschnitt – die Mao-Einheitskleidung und ein kurzer Militärschnitt ohne Koteletten – waren dieselben wie die seines Großvaters, als dieser 1945 die Kontrolle über Nordkorea übernahm. In Südkorea ging das Gerücht, der Ähnlichkeit habe ein Schönheitschirurg in Pjöngjang nachgeholfen, um den jungen Mann als eine Art Großer Führer II. erscheinen zu lassen.
Wenn sich der neue Führer denselben eisernen Griff auf das Land wie sein Vater und sein Großvater sichern will, benötigt er auf jeden Fall ein gewisses Maß an öffentlicher Unterstützung zusammen mit solidem Beistand vom Militär. Sein Vater Kim Jong Il war zwar nie populär, aber er hatte fast zwanzig Jahre Zeit, um zu lernen, wie er die Älteren in Schach halten konnte. Viele der führenden Generäle hatte er handverlesen, und als sein Vater 1994 starb, regierte Kim Jong Il das Land praktisch schon.
Mit seinen kaum dreißig Jahren und den weniger als drei Jahren Lehrzeit ist Kim Jong Un in einer schwierigen Position. Bis er die Hebel der Macht kennengelernt hat, wird er sich auf sein privilegiertes Blut, einen aufkeimenden Personenkult und die Loyalität von Verwandten, Höflingen und Generälen verlassen müssen, von denen man nicht weiß, ob sie sich mit der zweiten Reihe begnügen werden oder nicht.
KAPITEL 4
Shins Mutter versucht zu fliehen
Shin zog sich gerade im Schlafsaal der Schule seine Schuhe an, als sein Lehrer nach ihm sah. Es war Samstagmorgen, der 6. April 1996.
»He, Shin, komm raus, so wie du bist«, rief der Lehrer.
Ohne dass er ahnte, was los war, lief er aus dem Schlafsaal auf den Schulhof. Dort erwarteten ihn drei Männer in Uniform neben einem Jeep. Sie legten ihm Handschellen an, verbanden seine Augen mit einem Streifen schwarzem Stoff und schoben ihn auf den Rücksitz ihres Jeeps. Ohne ein Wort zu sagen, fuhren sie mit ihm davon.
Shin wusste nicht, wohin er gebracht werden sollte oder warum. Doch nach einer halben Stunde, in der er auf dem Rücksitz ordentlich durchgerüttelt wurde, fing er an, vor Furcht zu zittern.
Als der Jeep stoppte, hoben die Männer ihn aus dem Wagen und stellten ihn auf die Füße. Er hörte das Scheppern einer schweren Stahltür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde, dann das Surren einer Maschine. Die Wärter stießen ihn in einen Aufzug, der seinem Gefühl nach abwärts fuhr. Er befand sich in einem unterirdischen Gefängnis innerhalb des Lagers.
Nachdem der Aufzug angehalten hatte, wurde er einen Korridor entlang- und dann in ein großes, kahles, fensterloses Zimmer
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