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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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Song, seine damalige Chefin und faktisch sein Vormund, ein, seinen Bericht mit anzuhören. Hannah Song war die Geschäftsführerin von Liberty in North Korea, der Menschenrechtsgruppe, die mitgeholfen hatte, ihn in die Vereinigten Staaten zu bringen. Die 29-jährige Amerikanerin mit koreanischen Wurzeln unterstützte Shin beim Umgang mit Geld, der Beschaffung von Visa und Reisetickets, der ärztlichen Vorsorge und auch sonst in vielen Belangen des Lebens. Manchmal sagte sie spaßhaft von sich, sie sei Shins Mama.
    Shin zog seine Sandalen aus und legte seine Füße auf das Hotelsofa. Ich schaltete ein Tonbandgerät ein. Das Geräusch des morgendlichen Verkehrs auf dem Torrance Boulevard wehte gedämpft herauf. Shin spielte nervös an den Knöpfen seines Handys.
    »Um was geh t ’s denn?«, fragte ich.
    Shin sagte, er habe bei der Geschichte vom Fluchtversuch seiner Mutter nicht die Wahrheit gesagt. Er habe die Lüge kurz vor seiner Ankunft in Südkorea erfunden.
    »Es gab eine Menge Sachen, die ich verbergen musste«, sagte er. »Ich hatte Angst vor einer heftigen Reaktion, dass die Leute mich fragen würden: ›Bist du überhaupt noch ein Mensch?‹
    Es hat mich die ganze Zeit belastet, was ich da mit mir herumtrug. Anfangs habe ich mir über meine Lüge kaum Gedanken gemacht. Es war meine Absicht zu lügen. Inzwischen bringen mich die Menschen in meiner Nähe dazu, dass ich aufrichtig sein will. Sie bringen mich dazu, dass ich moralischer sein will. Deshalb wuchs bei mir das Bedürfnis, die Wahrheit zu sagen. Ich habe jetzt Freunde, die aufrichtig sind. Mit der Zeit habe ich verstanden, was Aufrichtigkeit ist. Ich empfinde eine tiefe Schuld an allem.
    Ich habe meinen Wärtern mehr vertraut als meiner Familie. Wir haben uns gegenseitig bespitzelt. Ich weiß, dass die Menschen auf mich herabsehen werden, wenn ich jetzt die Wahrheit sage.
    Außenstehende machen sich keinen Begriff von den Zuständen im Lager. Es sind nicht nur die Soldaten, die uns schlagen. Es sind die Gefangenen selbst, die sich untereinander unfreundlich behandeln. Es herrscht kein Gefühl der Gemeinschaft. Ich bin einer dieser niederträchtigen Gefangenen.«
    Shin sagte, er erwarte keine Absolution für das, was er uns gleich enthüllen werde. Er könne sich das selbst nicht verzeihen. Außerdem hörte es sich so an, als versuchte er etwas mehr als nur Sühne für seine Schuld zu leisten. Er wollte erklären – wobei es ihm durchaus bewusst war, dass damit seine Glaubwürdigkeit als Zeuge Schaden nehmen würde –, wie das Lager seinen Charakter kompromittiert hatte. Wenn Außenstehende verstehen könnten, was politische Arbeitslager Kindern, die im Lager geboren wurden, angetan haben – und noch immer antun –, würde das seine Lüge und sein Leben erlösen.

KAPITEL 5
    Shins Mutter versucht zu fliehen, zweite Version
    Diese Geschichte beginnt einen Tag früher, am Freitagnachmittag, dem 5. April 1996.
    Als die Schule aus war, hatte Shins Lehrer für ihn eine Überraschung. Er ließ ihn wissen, dass er die Nacht nicht im Schlafsaal verbringen müsse, sondern nach Hause gehen und mit seiner Mutter zu Abend essen könne.
    Der Lehrer wollte Shin damit für sein gutes Verhalten belohnen. Denn in den zwei Jahren, die er jetzt schon im Schulschlafsaal schlafen musste, hatte er einiges dazugelernt. Er bummelte nun seltener, wurde seltener geschlagen und denunzierte andere Schüler häufiger.
    Shin wollte eigentlich nicht bei seiner Mutter übernachten. Dass sie nicht mehr zusammenwohnten, hatte ihre Beziehung nicht verbessert. Er glaubte ihr noch immer nicht, dass ihr wirklich etwas an ihm lag; sie machte in seiner Gegenwart nach wie vor einen angespannten Eindruck. Doch der Lehrer hatte es Shin aufgetragen, und er gehorchte.
    Zu Hause erwartete Shin eine noch größere Überraschung. Sein Bruder, He Geun, war ebenfalls gekommen. Er arbeitete in der Zementfabrik des Lagers, die mehrere Kilometer entfernt im Südwesten lag. Shin kannte He Geun, der seit zehn Jahren nicht mehr zu Hause wohnte und inzwischen 21 Jahre alt war, kaum, und sie begegneten sich nicht oft.
    Shin wusste nur, dass er kein fleißiger Arbeiter war. Er bekam daher nur selten die Erlaubnis, die Fabrik zu verlassen, um seine Eltern zu besuchen. Wenn er sich heute im Haus seiner Mutter aufhielt, dachte Shin, musste er endlich einmal etwas richtig gemacht haben.
    Shins Mutter war nicht erfreut, als ihr jüngerer Sohn unangemeldet in der Tür stand. Sie begrüßte ihn nicht und sagte

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