Flucht aus Lager 14
geführt, wo ihm die Augenbinde abgenommen wurde. Als er die Augen öffnete, sah er einen Offizier mit vier Sternen auf seiner Uniform. Der Offizier saß hinter einem Schreibtisch. Zwei weitere Wärter in Kakiuniform standen in der Nähe. Einer von ihnen befahl Shin, sich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne zu setzen.
»Du bist Shin In Geun?« fragte der Viersterneoffizier.
»Jawohl, das bin ich«, antwortete Shin.
»Shin Gyung Sub ist der Name deines Vaters?«
»Jawohl.«
»Jang Hye Gyung ist der Name deiner Mutter?«
»Jawohl.«
»Shin He Geun ist der Name deines Bruders?«
»Jawohl.«
Der Offizier sah Shin fünf Minuten lang wortlos an. Shin hatte keine Ahnung, worauf diese Vernehmung hinauslief.
»Weißt du, warum du hier bist?«, fragte der Offizier schließlich.
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Soll ich es dir sagen?«
Shin nickte wortlos.
»Heute in der Frühe wurden deine Mutter und dein Bruder dabei überrascht, wie sie einen Fluchtversuch unternahmen. Deshalb bist du hier. Kapiert? Wusstest du von dieser Tatsache oder nicht?«
»Ich … ich hatte keine Ahnung.«
Shin war so überwältigt von der Nachricht, dass er kaum ein Wort herausbrachte. Er wusste nicht, ob er träumte oder wach war. Der Offizier wurde zunehmend gereizt und glaubte ihm kein Wort.
»Wie ist es möglich, dass du nichts davon weißt, dass deine Mutter und dein Bruder versucht haben, von hier zu fliehen?«, fragte er. »Wenn dir dein Leben lieb ist, dann ist es besser, wenn du mit der Wahrheit rausrückst.«
»Nein, ich habe wirklich nichts davon gewusst«, sagte Shin.
»Und dein Vater hat keine Andeutung darüber gemacht?«
»Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich zuletzt zu Hause war«, erwiderte Shin. »Als ich vor einem Monat zu Besuch war, habe ich nichts gehört.«
»Was hat deine Familie nicht ertragen können, dass sie das Wagnis einer Flucht eingegangen ist?«
»Ehrlich, ich weiß überhaupt nichts davon.«
Das war die Geschichte, die Shin erzählte, als er im Spätsommer 2006 nach Südkorea kam. Er erzählte sie zusammenhängend, er erzählte sie oft, und er erzählte sie gut.
In Seoul befragten ihn zuerst die Agenten des staatlichen National Intelligence Service ( NIS , Nationaler Geheimdienst). Es waren erfahrene Vernehmungsbeamte, die bei jedem nordkoreanischen Flüchtling ausführliche Befragungen vornahmen und darauf spezialisiert waren, potenzielle Attentäter zu erkennen, die von Kim Jong Ils Regierung in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in den Süden geschickt wurden.
Nachdem der NIS seine Geschichte gehört hatte, erzählte Shin sie auch Beratern und Psychologen eines staatlichen Zentrums für Umsiedlung, danach Menschenrechtsaktivisten sowie anderen Flüchtlingen aus dem Norden und schließlich auch den lokalen und internationalen Nachrichtenmedien. Er schrieb darüber in seinen Erinnerungen von 2007, und er hat sie mir erzählt, als wir im Dezember 2008 miteinander Bekanntschaft schlossen. Neun Monate später erzählte er sie ausführlicher, als ich ihn in Seoul eine Woche lang eingehend interviewte.
Es gab natürlich keinerlei Möglichkeit, seine Geschichte zu überprüfen. Shin war die einzige verfügbare Informationsquelle für sein früheres Leben. Seine Mutter und sein Bruder waren tot. Sein Vater befand sich noch im Lager oder war inzwischen ebenfalls tot. Die nordkoreanische Regierung konnte die Richtigkeit der Erzählung weder bestätigen noch dementieren, da für sie offiziell ein Lager 14 gar nicht existiert.
Doch die Geschichte war mehrmals überprüft worden und wirkte authentisch auf Überlebende anderer Straflager, Wissenschaftler, Menschenrechtsaktivisten und auf die südkoreanische Regierung. Ich war von ihrer Wahrheit überzeugt und brachte sie in meinem Artikel in der Washington Post . Ich schrieb, dass Shin, da seine Mutter ihm nichts von ihrem Fluchtplan erzählt hatte, »zutiefst bestürzt war, als er davon erfuhr«.
An einem wolkenlosen Morgen in Torrance, Kalifornien, revidierte Shin die Geschichte.
Wir hatten mit Unterbrechungen ein Jahr lang an dem Buch gearbeitet, und seit einer Woche saßen wir in meinem schwach erleuchteten Zimmer in einem Best Western Hotel einander gegenüber und gingen noch einmal die Ereignisse seines früheren Lebens durch.
Einen Tag vor dieser Sitzung sagte Shin, es gebe da etwas Neues und Wichtiges, das er mitteilen müsse. Er wollte unbedingt, dass wir uns einen neuen Übersetzer suchten. Außerdem lud er Hannah
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