Flucht aus Lager 14
auch nicht, dass sie ihn vermisst habe.
»O, du bist daheim«, war ihre Reaktion.
Dann nahm sie ihre tägliche Ration von 700 Gramm Maismehl, um daraus im einzigen Topf, den sie besaß, einen Brei zu kochen. Mit Schalen und Löffeln aßen sie und ihre Söhne auf dem Fußboden in der Küche. Nachdem er gegessen hatte, ging Shin ins Schlafzimmer, um sich schlafen zu legen.
Stimmen aus der Küche weckten ihn. Er spähte durch die halb offene Tür und war neugierig, über was seine Mutter und sein Bruder redeten.
Seine Mutter kochte Reis. Für Shin war das ein Schlag ins Gesicht – ihm hatte sie eine dünne Maissuppe vorgesetzt, denselben geschmacklosen Papp, den er an jedem Tag seines Lebens essen musste, und sein Bruder bekam jetzt Reis.
Die Bedeutung von Reis in der nordkoreanischen Kultur ist kaum zu überschätzen. Er steht für Wohlstand, beschwört die Verbundenheit der Familie herauf und segnet ein wirkliches Mahl. Gefangene in einem Zwangsarbeitslager erhalten so gut wie nie Reis zu essen, und sein Fehlen ist eine tägliche Erinnerung daran, dass ihnen diese Selbstverständlichkeit vorenthalten wird.
Auch außerhalb des Lagers ist wegen der chronischen Knappheit Reis bei vielen nordkoreanischen Familien vom Speiseplan verschwunden, zumal bei denen, die dem Regime ablehnend gegenüberstehen. Jugendliche Flüchtlinge aus Nordkorea, denen es gelang, Südkorea zu erreichen, haben Regierungsberatern von einem immer wiederkehrenden Traum erzählt: Sie sitzen mit ihrer Familie an einem Tisch und essen gekochten Reis. Unter der Elite in Pjöngjang ist eines der begehrtesten Statussymbole ein elektrischer Reiskocher.
Als Shin sah, wie seine Mutter kochte, kam ihm der Gedanke, dass sie den Reis über einen längeren Zeitraum von der Farm, auf der sie arbeitete, gestohlen haben musste, Körnchen für Körnchen, und ihn irgendwo im Haus versteckt hatte.
Shin schäumte im Schlafzimmer vor Wut.
Und er lauschte.
Vor allem sein Bruder redete. Shin hörte, dass He Geun keineswegs einen freien Tag hatte. Ohne Erlaubnis hatte er sich einfach von der Zementfabrik entfernt, wo er anscheinend irgendetwas angestellt hatte.
Shin erkannte, dass sein Bruder in der Klemme steckte und wahrscheinlich bestraft werden würde, wenn die Wärter ihn in die Finger bekamen. Shins Bruder und seine Mutter beratschlagten, was sie tun sollten.
Flucht.
Shin war verblüfft, als er das Wort hörte. Sein Bruder hatte es ausgesprochen. Er plante abzuhauen, und seine Mutter half ihm dabei. Ihr kostbarer Reisvorrat war Nahrung für die Flucht.
Shin hörte seine Mutter nicht sagen, dass sie sich ihrem Sohn anschließen wolle. Doch sie versuchte nicht, ihn davon abzubringen, obwohl sie wusste, dass die Flucht, ob gelungen oder vereitelt, zur Folge hätte, dass sie und ihre Familie gefoltert und wahrscheinlich auch getötet würden. Jeder Lagerhäftling kannte die erste Regel im Lager 14, Absatz 2: »Jeder Zeuge eines Fluchtversuchs, der ihn nicht anzeigt, wird auf der Stelle erschossen.«
Seine Mutter klang nicht beunruhigt. Aber Shin war es. Sein Herz pochte, er war wütend, dass sie sein Leben seinem älteren Bruder zuliebe aufs Spiel setzte. Er hatte Angst, dass er mit hineingezogen und dafür erschossen werden würde.
Und er war eifersüchtig auf seinen Bruder, der Reis essen durfte.
Auf dem Boden des Schlafzimmers seiner Mutter rang der gekränkte dreizehnjährige Junge mit sich, was er tun sollte. Schließlich siegte sein Lagerinstinkt: Er musste einem Wärter Bescheid sagen. Er stand auf, ging durch die Küche und verließ die Wohnung.
»Wo gehst du hin?«, fragte seine Mutter.
»Aufs Klo«, erwiderte er.
Shin lief zurück zu seiner Schule und betrat den Schlafsaal. Es war ein Uhr morgens. Sein Lehrer war nach Hause in die abgesperrte Bowiwon -Siedlung gegangen.
Mit wem konnte er darüber sprechen?
In dem voll besetzten Schlafsaal, in dem seine Klasse schlief, fand Shin seinen Freund Hong Sung Jo und weckte ihn.
Wenn er überhaupt einen vertrauensvollen Freund hatte, dann war er es.
Shin erzählte ihm, was seine Mutter und sein Bruder vorhatten, und bat ihn um seinen Rat. Hong meinte, er müsse es dem Wärter für den Nachtdienst mitteilen. Sie gingen zu ihm. Während sie sich auf den Weg zum Hauptgebäude der Schule machten, überlegte sich Shin, wie er von seiner Anzeige profitieren könnte.
Der Wärter war wach und in Uniform. Er forderte die beiden Jungen auf, in sein Büro zu gehen.
»Ich habe Ihnen etwas Wichtiges
Weitere Kostenlose Bücher