Flucht aus Lager 14
mitzuteilen«, erklärte Shin dem Wärter, den er nicht kannte. »Aber vorher möchte ich etwas dafür bekommen.«
Der Wärter versicherte ihm, dass er sein Möglichstes tun werde.
»Ich möchte die Zusage, dass ich mehr Essen bekomme«, sagte Shin.
Shins zweite Forderung war, dass man ihn zum Klassensprecher ernannte. In dieser Stellung würde er weniger arbeiten müssen, und man würde ihn weniger oft schlagen.
Der Wärter versicherte ihm, dass diese Forderungen erfüllt würden.
Zufrieden mit der Zusicherung des Wärters, erzählte Shin, welchen Plan seine Mutter und sein Bruder hatten und wo sie sich im Augenblick befanden. Der Wärter telefonierte mit seinen Vorgesetzten. Er sagte Shin und seinem Freund, sie sollten wieder zum Schlafsaal zurückgehen und noch ein wenig schlafen, er werde sich um den Rest kümmern.
Am Morgen nach dem Verrat an seiner Mutter und seinem Bruder kamen einige uniformierte Männer in die Schule, um Shin abzuholen.
Genauso wie er es in seinen Erinnerungen niedergeschrieben hatte und genauso wie er es jedermann in Südkorea erzählt hatte, wurden ihm Handschellen und eine Augenbinde angelegt, er wurde auf den Rücksitz eines Jeeps gestoßen und schweigend zu einem unterirdischen Gefängnis auf dem Gelände des Lagers gebracht.
Doch Shin wusste, warum man ihn abgeholt hatte. Und die Oberaufseher im Lager 14 waren informiert, so dachte er, dass er ihnen den Tipp gegeben hatte.
KAPITEL 6
Dieser Hundesohn will nicht
»Weißt du, warum du hier bist?«
Shin wusste, was er getan hatte; er hatte die Regeln des Lagers eingehalten und eine Flucht verhindert.
Doch der Offizier wusste nicht – oder es spielte für ihn keine Rolle –, dass Shin ein pflichtbewusster Informant war.
»Heute in der Frühe wurden deine Mutter und dein Bruder dabei erwischt, wie sie versuchten zu fliehen. Deshalb bist du hier. Kapiert? Wusstest du von dieser Tatsache oder nicht? Wie ist es möglich, dass du nichts davon weißt, dass deine Mutter und dein Bruder versucht haben, von hier auszureißen? Wenn dir dein Leben lieb ist, dann ist es besser, wenn du mit der Wahrheit rausrückst.«
Shin, der zunehmend verwirrt und verängstigt war, konnte kaum sprechen. Er war ein Informant. Er begriff nicht, warum er verhört wurde, als wäre er ein Komplize.
Shin fand später dann heraus, dass der Nachtwärter in der Schule den Verdienst an der Aufdeckung des Fluchtplans ganz allein für sich beansprucht hatte. In dem Bericht an seine Vorgesetzten wurde Shins Rolle mit keinem Wort erwähnt.
Doch an jenem Morgen im unterirdischen Gefängnis verstand Shin gar nichts. Er war ein verwirrter Dreizehnjähriger. Der Viersterneoffizier befragte ihn weiter über das Warum, Wann und Wie des Fluchtplans seiner Familie. Shin war unfähig, etwas Zusammenhängendes zu sagen.
Schließlich schob ihm der Offizier ein paar Blätter über den Tisch.
»In diesem Fall, du Hundesohn, lies das hier und mach am Ende deinen Daumenabdruck darunter.«
Die Papiere waren eine Art Strafregister der Familie. Sie enthielten die Namen, das Alter und eine Auflistung der Verbrechen von Shins Vater und dessen elf Brüdern.
Der älteste Bruder, Shin Tae Sub, wurde als Erster aufgeführt. Neben seinem Namen stand eine Jahreszahl: 1951, das zweite Jahr des Koreakriegs. In derselben Rubrik waren die Verbrechen seines Onkels vermerkt: Störung des öffentlichen Friedens, Gewalttätigkeit, Überlaufen in den Süden. Dieselben Vergehen wurden neben dem Namen von Shins zweitältestem Onkel angeführt.
Shin brauchte Monate, um zu verstehen, was er da sehen durfte. Die Dokumente erklärten, warum die Familie seines Vaters in das Lager 14 gesperrt worden war.
Das entsetzliche Verbrechen, das Shins Vater begangen hatte, bestand darin, dass er der Bruder von zwei jungen Männern war, die während eines mörderischen Bruderkriegs, der einen Großteil der koreanischen Halbinsel zerstörte und Hunderttausende Familien auseinanderriss, in den Süden geflohen waren. Shins Vater hatte ihn darüber nie aufgeklärt.
Sein Vater erzählte Shin später, wie die Familie an einem Tag im Jahr 1965 von Sicherheitskräften abgeholt wurde. Noch vor Tagesanbruch drangen sie in ein Haus ein, das Shins Großvater im Bezirk Mundok in der Provinz Süd-Pjöngjang gehörte. Es ist ein fruchtbares Gebiet etwa 55 Kilometer nördlich der Hauptstadt. »Packt eure Sachen!«, brüllten die bewaffneten Eindringlinge. Sie gaben keinen Grund an, warum die Familie verhaftet wurde oder
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