Flucht aus Lager 14
wohin sie gebracht würde. Bei Tagesanbruch kam ein Lastwagen für die Menschen und ihre Habe. Die Fahrt dauerte einen ganzen Tag (bei einer Entfernung von rund 70 Kilometern auf gebirgiger Straße), bis sie im Lager 14 ankamen.
Wie befohlen setzte Shin seinen Daumenabdruck auf das Dokument.
Die Wärter legten ihm erneut die Augenbinde an und führten ihn aus dem Vernehmungszimmer und einen Korridor entlang. Als sie ihm die Binde wieder abnahmen, las Shin die Nummer 7 auf einer Zellentür. Die Wärter schoben ihn dort hinein und warfen ihm einen Packen Häftlingskleidung zu.
»He, Hundesohn, zieh dir das an!«
Die Montur war für einen erwachsenen Mann gedacht. Als Shin sie über seinen zierlichen Körper zog, kam er sich vor wie in einem Kartoffelsack.
Shins Zelle war quadratisch und kaum groß genug, dass er sich auf dem betonierten Boden ausstrecken konnte. Es gab eine Kloschüssel in einer Ecke und ein Waschbecken mit fließendem Wasser. Die von der Decke hängende Glühbirne brannte, als Shin die Zelle betrat, und war von innen nicht auszuschalten. Ohne Fenster konnte Shin nicht feststellen, ob es Tag oder Nacht war. Es gab zwei dünne Decken auf dem Boden. Er bekam nichts zu essen und konnte nicht schlafen.
Er vermutet, dass es am nächsten Tag war, als die Wärter die Türe öffneten, ihm die Augenbinde anlegten und ihn zu einem zweiten Vernehmungszimmer führten, wo ihn zwei neue Offiziere erwarteten. Sie befahlen Shin niederzuknien und forderten ihn auf anzugeben, warum seine Familie flüchten wollte. Welchen Groll hatte seine Mutter? Über was hatte er mit ihr gesprochen? Welche Absichten hatte sein Bruder?
Shin sagte, er könne ihre Fragen nicht beantworten.
»Du bist noch nicht sehr alt«, gab ihm einer der Wärter zu bedenken. »Du musst nur gestehen, und du kannst gehen und leben. Möchtest du lieber hier sterben?«
»Ich … weiß wirklich überhaupt nichts«, erwiderte er.
Shin wurde immer verängstigter, immer hungriger und konnte es immer noch nicht begreifen, wieso die Wärter nicht wussten, dass er doch derjenige war, der die Fluchtabsichten verraten hatte.
Die Wärter schickten ihn wieder zurück in seine Zelle.
Am Morgen des dritten Tages, wie er annahm, betraten ein Vernehmer sowie drei Wärter Shins Zelle. Sie legten ihm Fußfesseln an, befestigten ein Seil an einem Haken an der Decke und hängten ihn mit dem Kopf nach unten daran auf. Dann verließen sie die Zelle und verschlossen die Tür – alles, ohne ein Wort zu verlieren.
Seine Füße berührten fast die Decke. Sein Kopf befand sich gut einen halben Meter über dem Boden. Mit seinen Händen, die nicht gefesselt waren, erreichte er fast den Boden. Er wand sich und schwang hin und her, um vielleicht eine bequemere Lage zu finden, aber vergebens. Sein Nacken verkrampfte sich, und seine Knöchel schmerzten. Schließlich waren seine Beine wie betäubt. Der Blutstau in seinem Kopf verursachte immer stärkere Kopfschmerzen.
Die Wärter kamen erst am Abend wieder. Sie nahmen dem Jungen die Fesseln ab und gingen, wieder ohne ein Wort. Ihm wurde Essen gebracht, doch Shin war kaum imstande, etwas zu sich zu nehmen. Er konnte die Finger nicht mehr bewegen, und an den Füßen hatten sich die stählernen Fußschellen so tief eingegraben, dass die Knöchel bluteten.
Am vierten Tag trugen die Vernehmer Zivilkleidung statt einer Uniform.
Nachdem man ihm wieder eine Augenbinde angelegt und ihn aus seiner Zelle geholt hatte, wurde er in ein schwach erleuchtetes Zimmer mit einer hohen Decke geführt. Auf Shin wirkte es wie ein Maschinenraum.
Von einer Winde an der Decke hing eine Kette herab. An den Wänden waren Haken befestigt, an denen ein Hammer, eine Axt, Zangen und Knüppel unterschiedlicher Formen und Größen aufgehängt waren. Auf einem großen Werktisch sah Shin eine Schmiedezange, mit der man glühende Metallteile packen und tragen konnte.
»Wie fühlt es sich an, hier zu sein?«, fragte einer der Vernehmer.
Shin wusste nicht, was er antworten sollte.
»Ich frage dich nur noch einmal«, drohte der Chef der Vernehmer. »Was haben dein Vater, deine Mutter und dein Bruder für die Zeit nach der Flucht geplant?«
»Ich weiß es einfach nicht«, sagte Shin.
»Wenn du jetzt hier und sofort die Wahrheit sagst, werde ich dich retten. Andernfalls werde ich dich töten. Verstanden?«
Wie Shin sich erinnert, konnte er keinen klaren Gedanken fassen und fühlte sich wie gelähmt.
»Bis jetzt war ich mit dir nachsichtig, weil du noch
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