Flucht aus Lager 14
die Ernährungslage wesentlich besser.
2004 waren die Ernten in ganz Nordkorea relativ gut, außerdem schickte Südkorea Lebensmittelhilfen und kostenlosen Kunstdünger. Auch aus China und von der Welthungerhilfe gelangten große Mengen Nahrungsmittel in die Lager der Regierung – und ein Teil davon erreichte die Straßenmärkte.
Die Obdachlosen auf dem Bahnhofsgelände waren hungrig, doch Shin erlebte in den Straßen von Kilju niemanden, der dem Hungertod nahe gewesen wäre.
Die Märkte in der Großstadt hatten ein üppiges Angebot an getrockneten, frischen und verarbeiteten Nahrungsmitteln, darunter Reismehl, Tofu, Cracker, Kuchen und Fleisch. Auch Kleidung, Küchengeschirr und Elektronik wurden angeboten. Tauchte Shin mit gestohlenen Daikon auf, fand er immer schnell Marktfrauen, die dafür bar bezahlten.
Als Shin sich in Kilju mehr oder weniger erfolgreich durchschlug, verblasste nach und nach der Gedanke an eine Flucht nach China. Die Obdachlosen, denen er sich angeschlossen hatte, hegten andere Pläne. Sie beabsichtigten, im März auf einer staatlichen Farm Kartoffeln zu pflanzen, ein Job, der ihnen regelmäßige Mahlzeiten garantierte. Da er sonst nichts zu tun und keine anderen Kontakte hatte, beschloss Shin, mit ihnen zu gehen. Seine Pläne änderten sich jedoch wieder, nachdem er bei seinen Diebestouren einen besonders ergiebigen Tag erwischt hatte.
Sie waren auf dem Land unterwegs gewesen, und Shin setzte sich von seiner Gruppe ab, die einen Gemüsegarten entdeckt hatte. Allein ging er zur Rückseite eines verlassen wirkenden Hauses und brach durch ein Fenster ein. Drinnen fand er Winterbekleidung, eine wollene Mütze im Stil der Militärmützen und einen sieben Kilo schweren Sack mit Reis. Er tauschte seine abgerissene, schmutzige Kleidung gegen die wärmeren Kleider und trug den Reis in seinem Rucksack zu einem Kaufmann in der Stadt, der ihm dafür 6000 Won bezahlte, rund sechs Dollar.
Mit dem Geld waren die Chancen für eine Flucht nach China deutlich gestiegen. Shin ging zum Güterbahnhof von Kilju und kletterte in einen Waggon, der Richtung Norden fahren sollte.
KAPITEL 18
Die Grenze
Der Tumen, der etwa ein Drittel der Grenze zwischen Nordkorea und China bildet, ist seicht und schmal. Im Winter ist er normalerweise zugefroren, und eine Überquerung dauert höchstens fünf Minuten. In den meisten Abschnitten bietet dichter Baumbestand am chinesischen Flussufer eine wirksame Deckung. Chinesische Grenzwächter sind selten.
Shin erfuhr von diesem Fluss von Händlern im Zug. Aber er verfügte über keine genaueren Informationen darüber, an welchen Stellen der Übergang am günstigsten war oder wie viel man den nordkoreanischen Grenzwächtern in die Hand drücken musste, die am Südufer patrouillierten.
So reiste er im Güterzug von Kilju über Chongjin nach Gomusan, einem Knotenpunkt etwa 40 Kilometer vor der Grenze, und sprach Einwohner an, um sich kundig zu machen.
»Was für eine Kälte«, sagte er zu einem älteren Mann, der auf den Stufen des Bahnhofs Gomusan hockte, und dabei bot er ihm Kekse an.
»Oh, vielen Dank«, sagte der Mann. »Darf ich Sie fragen, woher Sie kommen?«
Shin beantwortete die Frage wahrheitsgemäß, ohne ins Detail zu gehen. Er sagte, er sei von zu Hause weggelaufen aus der Provinz Süd-Pjöngjang (wo sich das Lager 14 befand), weil er nicht genug zu essen bekommen habe und ein hartes Leben hatte.
Der alte Mann sagte, dass sein Leben weitaus angenehmer gewesen sei, als er in China gelebt habe, wo es reichlich Lebensmittel und Arbeit gab. Vor acht Monaten habe ihn die chinesische Polizei festgenommen und nach Nordkorea abgeschoben, wo er einige Monate in einem Arbeitslager schuften musste. Er fragte Shin, ob er beabsichtige, dorthin zu gehen.
»Kann man denn ohne weiteres die Grenze überqueren?«, fragte er zurück und bemühte sich, seine Neugier und sein starkes Interesse nicht erkennen zu lassen.
Das war das Stichwort für den alten Mann. Er erzählte länger als einen halben Tag von China und erklärte, wo man am besten über den Tumen kam und wie man sich an den Kontrollpunkten vor der Grenze verhalten musste. Die meisten Wachen ließen sich gern bestechen. Wenn sie einen Ausweis sehen wollten, gebe man ihnen einfach ein paar Zigaretten und eine Tüte Kekse sowie etwas Geld. Am besten sage man ihnen, man sei ein desertierter Soldat. Oder man besuche Familienangehörige in China.
Früh am nächsten Morgen kletterte Shin auf einen Kohlenzug, der nach Musan
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