Flucht aus Lager 14
fuhr, einer Bergbaustadt nahe der Grenze. Man hatte ihn gewarnt, dass es in der Stadt von Soldaten wimmele. Er sprang daher kurz vor dem Bahnhof ab und machte sich zu Fuß in Richtung Südwesten auf. Er wanderte den ganzen Tag, fast 30 Kilometer, und hielt Ausschau nach einer Stelle des Tumen, die seicht genug war, um problemlos an das andere Ufer zu gelangen.
Shin war sich darüber im Klaren, dass man ihn ohne Personalausweis festnehmen würde, wenn die Wachen Dienst nach Vorschrift machen sollten. Am ersten Kontrollpunkt verlangte der Wachmann seinen Ausweis. Während er bemüht war, seine Angst zu verbergen, sagte er, er sei Soldat und auf dem Weg nach Hause. Es half, dass seine Kleidung und seine Wollmütze das Dunkelgrün der Armeeuniformen hatten.
»Hier haben Sie was zu rauchen«, sagte Shin und reichte dem Mann zwei Päckchen Zigaretten.
Der Wachmann nahm die Päckchen und winkte Shin einfach durch.
Am nächsten Kontrollpunkt, an dem er erneut den Ausweis zeigen sollte, genügten ein Päckchen Zigaretten und eine Tüte Kekse.
Zwei weitere Kontrollpunkte musste er noch passieren. Die Wachen, die er dort antraf, waren jung, mager und hungrig. Bevor Shin auch nur ein Wort sagen konnte, fragten sie ihn nach Zigaretten und etwas zu essen, aber schon gar nicht mehr nach seinem Ausweis.
Shin wäre ohne eine Portion Glück an der Grenze die Flucht aus Nordkorea nicht gelungen. Als er sich Ende Januar mit kleinen Geschenken den Weg nach China ebnete, war der illegale Grenzübertritt zufällig gerade relativ risikolos möglich.
Aufgrund der schwierigen Ernährungslage und der enormen Bedeutung chinesischer Lebensmittel für die Versorgung der Bevölkerung war die nordkoreanische Regierung gezwungen, eine durchlässige Grenze zu China zu dulden. Diese Duldung wurde 2000 halboffizielle Politik, als Kim Jong Il Milde gegenüber all denen verhieß, die das Land auf der Suche nach Nahrung verlassen hatten. Es war das verspätete Eingeständnis, dass Zehntausende Nordkoreaner, vom Hungertod bedroht, bereits nach China geflohen waren und dass das Land zunehmend auf deren Geldüberweisungen angewiesen war. Im selben Jahr hatten Händler zu Tausenden begonnen, nach China zu fahren, um von dort Lebensmittel und Gebrauchsgüter in ihr Land zu bringen und sie hier auf Märkten zu verkaufen, die inzwischen das öffentliche Verteilungssystem fast vollständig ersetzt hatten.
Nach Kims Erlass wurden verhaftete Pendler nach einigen Tagen der Vernehmung oder schlimmstenfalls einigen Monaten in Arbeitslagern entlassen, sofern die Ermittler keine Anhaltspunkte dafür gefunden hatten, dass die Betroffenen von China aus mit Südkoreanern oder Missionaren Kontakt aufgenommen hatten. 29 Die nordkoreanische Regierung begann mittlerweile auch die Rolle der Händler für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln anzuerkennen und zu unterstützen. So stellten die Beamten – zumal wenn man sie geschmiert hatte – den Händlern, nachdem ihr Hintergrund durchleuchtet worden war, manchmal eine Bescheinigung aus, die es ihnen erlaubte, legal nach China zu fahren und von dort bestimmte Waren nach Nordkorea einzuführen. 30
Eine durchlässige Grenze änderte das Leben vieler. Wer regelmäßig in die ländlichen Gebiete Nordkoreas reiste, konnte feststellen, dass jetzt weit mehr Menschen warme Wintermäntel trugen und dass private Märkte gebrauchte chinesische Fernsehgeräte und Videoplayer anboten, außerdem raubkopierte Videobänder und - CDs . (Video- CD s bieten eine wesentlich niedrigere Auflösung als DVD s, aber CD -Player waren billiger als DVD -Player und für Nordkoreaner erschwinglicher.)
Nordkoreanische Überläufer in Seoul berichteten, dass es ihnen die in China produzierten Transistorradios möglich gemacht hatten, chinesische und südkoreanische Sendungen zu hören, ebenso Radio Free Asia und Voice of America. Viele erzählten Geschichten darüber, wie sie nach Hollywoodfilmen und südkoreanischen Seifenopern süchtig wurden.
»Wir ließen immer die Rollläden herunter und stellten den Ton leise, wenn wir uns die James-Bond-Videos anschauten«, erzählte mir eine 40-jährige Hausfrau aus Nordkorea in Seoul. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn mit einem Boot aus ihrem Fischerdorf geflohen. »Durch diese Filme habe ich angefangen zu begreifen, was in der Welt vor sich geht, durch sie haben die Menschen erkannt, dass die Regierung von Kim Jong Il letztlich nicht zu ihrem Wohl arbeitet.«
Ihr Sohn sagte
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