Flucht aus Lager 14
mir, er habe sich in die Vereinigten Staaten , wo er eines Tages gern leben wolle, verliebt, nachdem er unscharfe Videos der TV -Serie Drei Engel für Charlie gesehen hatte.
Als das Rinnsal ausländischer Videos zu einer Flutwelle anschwoll, wurde die nordkoreanische Polizei nervös und dachte sich neue Methoden aus, Menschen zu erwischen, die solche Videos ansahen. Sie schaltete in bestimmten Mietshäusern den Strom ab und überprüfte anschließend in jeder Wohnung, welche Bänder und CD s in den Geräten steckten.
Etwa zu der Zeit, als Shin und Park ihren Fluchtplan in Angriff nahmen, gelangte Kim Jong Ils Regierung zu dem Schluss, dass die Grenze viel zu durchlässig geworden sei und eine Bedrohung der inneren Sicherheit darstellte. Pjöngjang war insbesondere erbost über die südkoreanische und US -amerikanische Initiative, die es jenen nordkoreanischen Überläufern, die nach China geflohen waren, noch leichter machte, von dort aus weiterzureisen und sich im Westen niederzulassen. Im Sommer 2004, im Zuge einer Massenflucht, flog Südkorea 468 Nordkoreaner von Vietnam nach Seoul. Nordkoreas Nachrichtenagentur verurteilte den Flug als »vorsätzliche Verlockung, Entführung und Terrorismus«. Etwa zur selben Zeit verabschiedete der US -Kongress ein Gesetz, das nordkoreanischen Flüchtlingen das Recht gab, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen. Dieses Gesetz wurde von Nordkorea als Versuch verspottet, unter dem Vorwand, die Demokratie zu fördern, seine Regierung zu stürzen.
Aus diesen Gründen wurden die Bestimmungen für die Grenze zu China ab Ende 2004 geändert. Nordkorea propagierte eine neue Politik harter Strafen für illegale Grenzübertritte mit Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. 2006 befragte Amnesty International 16 Nordkoreaner, die über die Grenze gegangen waren. Sie erzählten, dass neue Bestimmungen in Kraft seien und dass die Behörden im Norden Warnungen in Umlauf setzten, dass selbst bei einer erstmaligen Grenzüberschreitung den Missetäter eine Gefängnisstrafe von nicht unter einem Jahr erwarte. Um die Bestimmungen durchzusetzen, begann Nordkorea entlang der Grenze mit dem Aufbau einer elektronischen und fotografischen Überwachung. Es erweiterte Stacheldrahtzäune und baute neue Betonhindernisse. 31 China verstärkte ebenfalls die Grenzsicherungsanlagen, um die Nordkoreaner im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 davon abzuhalten, in das Land zu kommen.
Ende Januar 2005, als Shin sich mit Zigaretten und Keksen auf den Weg nach China machte, war mithin der Zeitpunkt, an dem sich das Zeitfenster einer relativ risikolosen Grenzüberschreitung nach China ohne gültige Papiere zu schließen begann. Aber er hatte Glück: Die Anweisungen von oben hatten noch nichts am Verhalten der vier armseligen Soldaten geändert, denen Shin an den Kontrollpunkten entlang dem Tumen begegnet war.
»Ich sterbe hier vor Hunger«, sagte der letzte Soldat, den Shin an der Grenze bestach. Er sah aus, als wäre er gerade 16 Jahre alt. »Hast du vielleicht etwas zu essen für mich?«
Sein Posten war in der Nähe einer Brücke, die nach China führte. Shin gab ihm eine Tofuwurst, Zigaretten und eine Tüte mit Süßigkeiten.
»Kommen hier viele vorbei, die nach China wollen?«, fragte Shin.
»Aber sicher«, antwortete der Wachtposten. »Sie gehen mit dem Segen der Armee und kommen zurück, nachdem sie ordentlich Geld verdient haben.«
Im Lager 14 hatte Shin häufig mit Park darüber gesprochen, was sie wohl tun würden, wenn sie erst einmal die Grenze hinter sich gebracht hätten. Sie hatten geplant, bei Parks Onkel unterzukommen, und an ihn musste Shin jetzt denken.
»Wäre es möglich, dass ich meinen Onkel besuche, der in dem Dorf auf der anderen Seite des Flusses wohnt?«, fragte Shin, ohne dass er eine Ahnung hatte, wo Parks Onkel eigentlich wohnte. »Wenn ich zurückkomme, lade ich dich ein.«
»Kein Problem«, sagte der Posten. »Aber ich habe nur noch bis heute Abend um sieben Uhr Dienst. Du musst also vorher wieder hier sein, in Ordnung?«
Der Posten führte Shin durch einen Wald zu einer Stelle am Fluss, an der man diesen sicher überqueren konnte. Es war schon später Nachmittag, doch Shin versprach, früh genug wieder zurück zu sein und für ihn etwas Essen mitzubringen.
»Ist der Fluss zugefroren?«, fragte er. »Kann man über das Eis gehen?«
Der Posten versicherte ihm, der Fluss sei zugefroren, und selbst wenn er durch das Eis breche, sei es nicht schlimm, weil das Wasser
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