Flucht aus Lager 14
eingehämmert, dass Südkorea den Krieg begonnen habe, angestiftet und unterstützt von den Vereinigten Staaten. In Hanawon weigern sich viele der Flüchtlinge zu glauben, dass dieser Grundpfeiler der nordkoreanischen Geschichte eine Lüge ist, und werden wütend.
Da Shin im Lager 14 so gut wie nichts gelernt hatte, bedeutete ihm die radikal revidierte Geschichte der koreanischen Halbinsel wenig. Ihn interessierte weit mehr der Unterricht, in dem es darum ging, wie man Computer bediente und wie man sich über das Internet bestimmte Informationen beschaffen konnte.
Doch gegen Ende seines ersten Monats in Hanawon, als er gerade angefangen hatte, sich heimisch zu fühlen, wurde Shin von bedrückenden Träumen heimgesucht. Er sah seine Mutter am Galgen, Parks Leiche im Zaun, und er stellte sich plastisch die Folter vor, die sein Vater vermutlich erleiden musste, nachdem ihm die Flucht aus dem Lager geglückt war. Als die Alpträume anhielten, gab er eine Ausbildung zum Automechaniker auf und bereitete sich auch nicht mehr auf den Führerschein vor. Er litt an Appetitlosigkeit. Er konnte nicht einschlafen. Seine Schuldgefühle paralysierten ihn beinahe.
Fast alle Flüchtlinge aus Nordkorea, die in Hanawon ankommen, zeigen klinische Symptome von Verfolgungswahn. Sie sprechen leise und geraten schnell in Schlägereien. Sie haben Angst, ihren Namen, ihr Alter und ihren Geburtsort zu nennen. Ihre Manieren wirken auf Südkoreaner oft beleidigend. So sagen sie kaum »Danke« oder »Verzeihung«.
Nachfragen von südkoreanischen Bankangestellten, bei denen sie auf einer der Exkursionen ein Konto einrichten sollen, jagen den Flüchtlingen häufig Angst ein. Sie sind argwöhnisch gegenüber fast allen Menschen in einer leitenden Position. Sie fühlen sich schuldig gegenüber den Menschen, die sie zurückgelassen haben. Ihre Sorgen, weil sie sich im Hinblick auf ihre Ausbildung und ihre finanzielle Lage den Südkoreanern zutiefst unterlegen fühlen, können sich bis zu einer Panikattacke steigern. Sie schämen sich wegen ihrer Kleidung, ihrer Art zu reden und selbst wegen ihrer Frisuren.
»In Nordkorea war Paranoia eine rationale Reaktion auf die realen Verhältnisse, und es erleichterte diesen Menschen das Überleben«, sagte mir Kim Hee-kyung, eine klinische Psychologin, mit der ich in ihrem Büro in Hanawon ein Gespräch führte. »Aber hier hindert es sie daran zu verstehen, wie die Verhältnisse in Südkorea sind. Es ist ein ernsthaftes Hindernis für die Assimilierung.«
Heranwachsende aus dem Norden verbringen zwei Monate bis zwei Jahre in einer weiterführenden Schule in Hangyoreh, einem vom Staat finanzierten Förderinternat, das an Hanawon angeschlossen ist. 2006 nahm die Schule ihre Arbeit auf. Ihr Ziel ist es, die jungen Neuankömmlinge aus dem Norden zu fördern, da den meisten von ihnen die Voraussetzungen der staatlichen Schulen in Südkorea fehlen.
Beinahe alle haben Schwierigkeiten mit dem Lesen und den Grundrechenarten. Einige von ihnen sind kognitiv beeinträchtigt, anscheinend infolge von Unterernährung im Kleinkindalter. Selbst bei den Intelligentesten unter diesen Jugendlichen umfassen die Kenntnisse im Fach Weltgeschichte im Wesentlichen nur die mythischen Heldengeschichten von ihrem »G roßen Führer« Kim Il Sung und dessen »g eliebtem Sohn« Kim Jong Il.
»Die schulische Bildung in Nordkorea ist für das Leben in Südkorea nutzlos«, lautet das Urteil von Gwak Jong-moon, dem Direktor von Hangyoreh. »Wenn Sie zu hungrig sind, hilft Ihnen das Lernen nicht weiter, und hungernde Lehrer sehen keinen Sinn in ihrem Unterricht. Viele unserer Schüler haben sich jahrelang in China versteckt, ohne eine Schule zu besuchen. Und was die Kinder im Vorschulalter in Nordkorea angeht, so sind sie daran gewöhnt, Baumrinde zu essen, und finden das normal.«
Als die neu angekommenen Nordkoreaner ihre ersten Kinobesuche machten, gerieten sie in Panik, sobald das Licht erlosch, weil sie befürchteten, jemand könnte sie entführen. Sie sind irritiert, weil die Südkoreaner ein anderes Koreanisch sprechen als im Norden. Südkoreanisch enthält jede Menge Amerikanismen wie etwa syop’ing (shopping) und k’akt’eil (cocktail).
Sie können es einfach nicht glauben, dass Geld in Plastikkärtchen – k’uredit k’adus (credit cards) – gespeichert ist.
Der Verzehr von Pizza, heißen Würstchen und Hamburgern – Grundnahrungsmittel der südkoreanischen Jugend – löst bei ihnen Verdauungsbeschwerden aus.
Weitere Kostenlose Bücher