Flucht aus Lager 14
sie zum Tor des Konsulats. Auf Chinesisch sagte der Journalist den Polizisten, er und sein Freund hätten im Konsulat etwas Geschäftliches zu besprechen.
Die Polizei öffnete das Tor und winkte sie durch.
Als sie im Gebäude waren, sagte der Journalist zu Shin, er könne nun aufatmen. Doch Shin konnte nicht glauben, dass er in Sicherheit war. Trotz wiederholter Versicherungen von den Mitarbeitern des Konsulats schien es ihm unvorstellbar, dass er wirklich unter dem Schutz der südkoreanischen Regierung stand. Diplomatische Immunität sagte ihm einfach nichts.
Das Konsulat war komfortabel ausgestattet, die südkoreanischen Beamten waren sehr hilfsbereit, und es befand sich ein weiterer Nordkoreaner im Haus, mit dem er sich unterhalten konnte.
Zum ersten Mal in seinem Leben konnte Shin täglich duschen. Er erhielt neue Kleider und frische Unterwäsche. Ausgeruht, gründlich von allem Schmutz befreit und mit dem wachsenden Gefühl, sich in Sicherheit zu befinden, wartete Shin auf die Ausfertigung der erforderlichen Dokumente, um nach Südkorea einreisen zu können. Er hörte von den Beamten im Konsulat, dass der Journalist, der ihm geholfen hatte (und der bis heute nicht möchte, dass sein Name oder der seiner Nachrichtenagentur genannt wird), Schwierigkeiten mit den chinesischen Behörden bekommen hatte.
Es dauerte noch sechs Monate, in denen Shin im Konsulat bleiben musste, bis er nach Seoul flog, wo der South Korean National Intelligence Service, der südkoreanische Geheimdienst, ein ungewöhnliches Interesse an ihm entwickelte. Im Verlauf der Vernehmungen, die einen ganzen Monat dauerten, erzählte Shin den Agenten seine Lebensgeschichte. Er bemühte sich, so wahrheitsgetreu wie möglich zu sein, und schwieg lediglich über seine Rolle als Denunziant seiner Mutter und seines Bruders.
KAPITEL 21
K’uredit K’adus
Als die Geheimdienstagenten ihre Arbeit beendet hatten, meldete sich Shin in Hanawon, was so viel bedeutet wie »Haus der Einheit«. Es ist ein von der Regierung betriebenes Umsiedlerzentrum, knapp 60 Kilometer von Seoul entfernt. Der Komplex sieht aus wie eine extrem abgesicherte, gut ausgestattete Nervenklinik: dreistöckige Häuser aus rotem Backstein, eingeschlossen von einem hohen Zaun mit Videokameras und beschützt von patrouillierenden Militärwachen.
Hanawon wurde 1999 vom Ministerium für Wiedervereini gung errichtet; hier erhalten nordkoreanische Flüchtlinge Unter kunft, Verpflegung und Unterricht, der ihnen hilft, sich an die extrem wettbewerbsorientierte kapitalistische Kultur Südkoreas zu gewöhnen und sich in ihr zu behaupten. Zu diesem Zweck umfasst das Personal Psychologen, Berufsberater und Lehrer, die alles unterrichten, von Geschichte bis zu Fahrstunden. Daneben gibt es Ärzte, Krankenschwestern und Zahnärzte. Während eines dreimonatigen Aufenthalts lernen die Flüchtlinge ihre Rechte nach dem südkoreanischen Gesetz kennen und unternehmen Ausflüge in Geschäfte, Banken und U-Bahn-Stationen.
»Allen Flüchtlingen fällt es schwer, sich anzupassen«, sagte mir Ko Gyoung-bin, der Generaldirektor von Hanawon, als ich die Einrichtung besuchte.
Anfangs sah es so aus, als hätte Shin weniger Anpassungsschwierigkeiten als die meisten anderen.
Ausflüge irritierten oder ängstigten ihn nicht. Nachdem er sich völlig selbständig in einigen der größten und belebtesten Städte Chinas orientiert hatte, war er an drängelnde Menschenmassen, Hochhäuser, protzige Autos und elektronisches Spielzeug gewöhnt.
Im Lauf des ersten Monats in Hanawon erhielt er die notwendigen Dokumente samt einem Lichtbildausweis, der seine südkoreanische Staatsbürgerschaft bestätigte, die von der Regierung automatisch all jenen verliehen wird, die aus Nordkorea geflohen sind. Außerdem nahm er an Kursen teil, in denen ihm die vielen staatlichen Vergünstigungen und Programme für Flüchtlinge aus dem Norden erläutert wurden, darunter kostenlose Wohnungen, ein monatliches Ansiedlungsstipendium von 800 Dollar für die Dauer von zwei Jahren sowie 18000 Dollar, wenn er eine Lehre absolvierte oder einen höheren Bildungsabschluss anstrebte.
Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen lernte er in einem Klassenzimmer, dass der Koreakrieg ausbrach, als Nordkorea am 25. Juni 1950 mit einem nicht provozierten Überraschungsangriff in Südkorea einmarschierte. Diese Geschichtsstunde wird von den meisten Neuankömmlingen aus Nordkorea entgeistert zur Kenntnis genommen. Von Geburt an hatte ihnen die Regierung
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