Flucht aus Lager 14
Dasselbe passiert, wenn sie zu viel Reis essen, das frühere Grundnahrungsmittel, das seit den Hungerjahren in Nordkorea nur noch eine Speise für die Reichen ist.
Ein junges Mädchen an der Hangyoreh-Schule gurgelte mit Weichspüler aus einer Plastikflasche in der Meinung, es sei Mundwasser. Ein anderes Mädchen hielt Waschpulver für Mehl. Viele zucken erschrocken zusammen, wenn sie zum ersten Mal das Geräusch einer elektrischen Waschmaschine hören.
Neben Paranoia, Verwirrung und zeitweiliger Technophobie neigen die Flüchtlinge zu vermeidbaren Krankheiten und Zuständen, die in Südkorea so gut wie nicht auftreten. Von Chun Jung-hee, während der letzten zehn Jahre Oberschwester in Hanawon, erfuhr ich, dass ein hoher Prozentsatz von Frauen aus Nordkorea unter chronischen gynäkologischen Infektionen und Zysten leidet. Viele Flüchtlinge seien außerdem infiziert mit Tuberkulose, die nie mit Antibiotika behandelt worden ist. Daneben hätten viele chronische Verdauungsstörungen und Hepatitis B. Alltägliche Krankheiten seien häufig schwierig zu diagnostizieren, da die Flüchtlinge an Ärzte nicht gewöhnt seien und ihnen misstrauisch begegneten, wenn diese ihnen persönliche Fragen stellten und Medikamente verschrieben. Männer, Frauen und Kinder hätten sehr schlechte Zähne, bedingt durch Unterernährung und einen Mangel an Kalzium in der Nahrung. Die Hälfte des Geldes, das in Hanawon jährlich für die medizinische Versorgung ausgegeben wird, entfällt auf Zahnprothesen.
Viele, wenn nicht die meisten Flüchtlinge, die nach Hanawon kommen, haben Nordkorea mit Hilfe von Vermittlern in Südkorea verlassen. Diese Vermittler warten auf den Tag, an dem die Flüchtlinge aus dem Umsiedlerzentrum entlassen werden und von dem an sie vom Staat monatliche Zuwendungen erhalten. Dann fordern sie ihr Honorar. Wie mir die Oberschwester sagte, bedrücken diese Schulden die Bewohner Hanawons.
Shin musste sich über dieses Problem keine Gedanken machen, und seine physische Verfassung war nach dem halben Jahr der Ruhe und regelmäßigen Mahlzeiten im Konsulat in Shanghai relativ gut.
Doch seine Alpträume gingen nicht weg.
Sie verfolgten ihn immer häufiger und wurden immer verstörender. Er konnte sein komfortables Leben mit regelmäßiger Nahrung immer weniger mit den grausamen Bildern aus dem Lager 14, die er nicht aus dem Kopf bekam, in Einklang bringen.
Als sich sein Zustand nicht besserte, kamen die Ärzte in Hanawon zu dem Schluss, dass er eine spezielle Betreuung benötige, und überwiesen ihn an die psychiatrische Station eines nahe gelegenen Krankenhauses, wo er zweieinhalb Monate verbrachte, zum Teil völlig isoliert und während der meisten Zeit unter Medikamenten, die es ihm ermöglichten, zu essen und zu schlafen.
Im südkoreanischen Konsulat in Shanghai hatte er angefangen, Tagebuch zu führen, und die Ärzte in der psychiatrischen Station hatten ihn ermutigt, das Schreiben als Bestandteil der Behandlung fortzusetzen, nachdem sie bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert hatten.
An die Zeit in der Psychiatrie kann sich Shin kaum noch erinnern, nur daran, dass seine Alpträume nach und nach verschwanden.
Nach seiner Entlassung zog er in eine kleine Wohnung, die vom Ministerium für Wiedervereinigung gekauft worden war. Sie lag in Hwaseong, einer Stadt mit etwa 500000 Einwohnern in der Küstenebene der zentralkoreanischen Halbinsel in der Nähe des Gelben Meers. Die Stadt liegt etwa 50 Kilometer südlich von Seoul.
Während des ersten Monats in seinem neuen Apartment blieb Shin die meiste Zeit in der Wohnung. Er beobachtete das südkoreanische Leben vom Fenster aus. Schließlich wagte er sich auch auf die Straße. Shin vergleicht sein zögerndes Eintauchen in die Menge auf der Straße mit dem langsamen Wachsen eines Fingernagels. Er kann nicht erklären, wie es geschah und was letztlich der Auslöser dafür war. Es passierte einfach.
Nachdem er sich vorsichtig in die Stadt gewagt hatte, ging er in eine Fahrschule. Wegen seines beschränkten Vokabulars fiel er zweimal durch die theoretische Prüfung. Shin fand es schwierig, eine Arbeit zu finden, die ihn interessierte, oder eine Stelle zu behalten, die man ihm angeboten hatte. Er fertigte Keramiktöpfe, arbeitete bei einem Schrotthändler und war in einem Feinkostgeschäft tätig.
Die Berufsberater in Hanawon sagen, dass die meisten Nordkoreaner ähnliche Exilerfahrungen machen. Häufig verlassen sie sich auf die südkoreanische
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