Flucht aus Lager 14
er begann die enormen Wissenslücken über sein Geburtsland zu schließen. Er verschlang Nachrichten über Nordkorea im Internet und in südkoreanischen Zeitungen. Er las Bücher über die Geschichte der koreanischen Halbinsel, die Kim-Familiendiktatur und den Status seines Landes als international geächteter Staat.
Im Database Center, dessen Mitarbeiter seit Jahren mit Flüchtlingen aus Nordkorea zu tun hatten, betrachtete man ihn als eine Art ungehobeltes Wunderkind.
»Verglichen mit den anderen Flüchtlingen lernte er schnell und kam auch mit dem Kulturschock gut zurecht«, sagte Lee Yong-koon, ein Teamleiter des Database Center.
In Gesellschaft seiner neuen Freunde ging Shin sonntagmorgens in die Kirche, aber mit einem liebenden und verzeihenden Gott konnte er nichts anfangen.
Eher einem Instinkt als einer Überlegung folgend, widerstrebte es Shin, Fragen zu stellen. Die Lehrer im Lager 14 bestraften die Kinder, die im Unterricht Fragen stellten. In Seoul war es ihm selbst im Kreis von hilfsbereiten Freunden einfach nicht möglich, einen von ihnen um eine Erklärung zu bitten. Er las besessen, machte jedoch keinen Gebrauch von einem Lexikon, wenn er auf ein Wort stieß, das er nicht kannte. Niemals bat er einen Freund, ihm etwas zu erklären, was er nicht verstand. Da er alles überging, was er nicht sogleich begreifen konnte, sah er auf seinen Reisen nach Tokio, New York und Kalifornien nichts, das bei ihm Staunen oder freudige Erregung ausgelöst hätte. Shin wusste, dass er es sich damit schwer machte, sich in sein neues Leben zu finden, aber er wusste auch, dass er sich nicht zwingen konnte, sich zu ändern.
KAPITEL 22
Südkoreaner sind nicht besonders interessiert
Die einzigen Geburtstage, die im Lager 14 zählten, waren die von Kim Jong Il und Kim Il Sung. Sie sind Nationalfeiertage in Nordkorea, und selbst in einem Zwangsarbeitslager haben die Häftlinge an diesen beiden Tagen arbeitsfrei.
An Shins Geburtstage in seiner Kindheit und Jugend dachte hingegen kein Mensch, nicht einmal er selbst.
Das änderte sich, als er in Südkorea 26 Jahre alt wurde. Vier seiner Freunde richteten ihm eine Überraschungsparty im T.G.I. Friday’s in der Innenstadt von Seoul aus.
»Ich war sehr gerührt«, erzählte er mir, als wir uns im Dezember 2008 zum ersten Mal trafen.
Doch solche Anlässe waren selten, und trotz dieser Party war Shin in Südkorea nicht glücklich. Er hatte vor kurzem einen Teilzeitjob in einer Bierkneipe in Seoul gekündigt. Er wusste nicht, wie er die 300 Dollar für ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft bezahlen sollte, und die monatliche Zuwendung von 800 Dollar, die er vom Ministerium für Wiedervereinigung erhalten hatte, war zu Ende gegangen. Sein Bankkonto war leer. Er machte sich Sorgen, dass er in Kürze bei den Obdachlosen im Hauptbahnhof von Seoul landen würde.
Auch mit seinem sozialen Leben war es nicht weit her. Er teilte zwar das gelegentliche Gemeinschaftsessen mit seinen Mitbewohnern in der Wohngemeinschaft, aber er hatte weder eine Freundin noch einen guten Freund. Er hatte keine Lust, sich anderen nordkoreanischen Flüchtlingen anzuschließen, die aus den Arbeitslagern entlassen worden waren. In dieser Hinsicht glich er vielen nordkoreanischen Flüchtlingen. In Untersuchungen wurde festgestellt, dass sie sich nur widerstrebend ihren Landsleuten anschließen und dass es nach ihrer Ankunft in Seoul zwei bis drei Jahre dauern kann, bis sie zu ihren Leidensgenossen Verbindung aufnehmen. 40
Sein Bericht über das Lager und seine Flucht wurde ein Flop, von 3000 gedruckten Exemplaren waren nur 500 Stück verkauft worden. Wie Shin mir erklärte, hatte ihm das Buch kein Geldeingebracht.
»Die Leute sind nicht besonders interessiert«, sagte Kim Sang-hun, der Direktor des Database Center, dem Christian Science Monitor , nachdem seine Organisation das Buch herausgebracht hatte. »Die Gleichgültigkeit der südkoreanischen Gesellschaft gegenüber der Frage der nordkoreanischen Menschenrechte ist entsetzlich.« 41
Aber Shin war keineswegs der erste Lagerüberlebende aus dem Norden, der von der südkoreanischen Öffentlichkeit mit einem kollektiven Gähnen begrüßt wurde.
Kang Chol-hwan verbrachte ein Jahrzehnt mit seiner Familie im Lager 15, bevor sie als »besserungsfähig« eingestuft und 1987 entlassen wurden. Doch seine herzzerreißende Geschichte, die er zusammen mit dem Journalisten Pierre Rigoulot niedergeschrieben und erstmals 2000 auf Französisch veröffentlicht
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