Flucht aus Lager 14
der Regierung zu fordern, mit einem massiven Gegenschlag zu reagieren. Und sie konnten den durchschnittlichen Südkoreaner nicht daran hindern, immer reicher und gebildeter zu werden und besser zu wohnen in einer Volkswirtschaft, die inzwischen mit ihrer Leistung in Asien an vierter und weltweit an elfter Stelle steht.
Die Südkoreaner haben den Preis der deutschen Wiedervereinigung genau im Auge. Die proportional entsprechende Belastung für Südkorea wäre Studien zufolge zweieinhalbmal so groß wie die Belastung für die Bundesrepublik nach der Wende. Demnach könnten sich die Kosten einer Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea über dreißig Jahre hinweg auf über zwei Billionen Dollar belaufen. Für einen Zeitraum von sechzig Jahren müssten Steuern erhöht werden, und zehn Prozent des südkoreanischen Bruttoinlandsprodukts müssten auf absehbare Zeit in die Wirtschaft Nordkoreas investiert werden.
Die Südkoreaner wollen eine Wiedervereinigung mit dem Norden, aber sie wollen sie nicht von heute auf morgen. Viele wünschen, dass sie nach ihrem Tod erfolge, weil die mit der Wiedervereinigung verbundenen Kosten ihnen einfach zu hoch erscheinen.
Shin und viele andere nordkoreanische Flüchtlinge beklagen mit einiger Berechtigung, dass die Südkoreaner ihnen gegenüber das Vorurteil hegten, sie hätten keine Bildung, könnten nicht richtig sprechen und seien schlecht angezogene Bauern, deren chaotisches Land mehr Ärger mache, als es wert sei.
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die südkoreanische Gesellschaft es den Flüchtlingen aus dem Norden schwer macht, sich zu assimilieren. Die Arbeitslosenquote der Nordkoreaner im Süden ist viermal höher als der Landesdurchschnitt, und die Selbstmordrate bei den Flüchtlingen ist zweieinhalbmal so hoch wie bei den Südkoreanern.
Doch die Südkoreaner haben selbst alle Hände voll zu tun, mit ihrer erfolgsbesessenen, statusbewussten und bildungsverrückten Kultur zurechtzukommen. Shin versuchte sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, die auf einzigartige Weise überarbeitet, unsicher und total gestresst ist. Nach einer Studie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) arbeiten die Südkoreaner mehr, schlafen weniger und haben eine Selbstmordrate, die höher ist als in allen anderen entwickelten Ländern.
Daneben mustern sie sich gegenseitig mit einem geringschätzig kritischen Blick. Selbstwert wird häufig eng definiert über die Zulassung zu den wenigen höchst exklusiven Universitäten und über Prestige verleihende und hoch bezahlte Positionen in Mischkonzernen wie Samsung, Hyundai oder LG .
»Diese Gesellschaft ist unnachsichtig, unbarmherzig, und es herrscht ein fortwährender Existenzkampf«, meint Andrew Eungi Kim, Soziologieprofessor an der Korea-Universität, einem der elitärsten Bildungsinstitute Südkoreas. »Wenn junge Menschen nicht über die richtigen Referenzen verfügen – sie nennen es ›the right spec‹ (die richtige Qualifizierung) –, werden sie sehr pessimistisch. Sie glauben, sie hätten den Start ins Leben verpasst. Der Druck, in der Schule gute Leistungen zu erbringen, beginnt unglaublicherweise schon in der vierten Klasse, und für die Schüler der siebten Klasse zählt nichts anderes mehr.«
Die Jagd nach den richtigen Referenzen hat in Südkorea dazu geführt, dass immer mehr Geld für die Bildung ausgegeben wird. Unter den wohlhabenden Staaten steht Südkorea bei den Pro-Kopf-Ausgaben für privat organisierte Bildung an erster Stelle. Hierzu gehören Nachhilfe in der Wohnung, Nachsitzen in der Schule und Englischkurse im eigenen Land wie im Ausland. Vier von fünf Schülern von der Grundschule bis zur höheren Schule besuchen nach Schulschluss einen Nachhilfekurs. Etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts wird für Bildung ausgegeben, prozentual mehr als das Doppelte der vergleichbaren Ausgaben in den Vereinigten Staaten, Japan oder England.
Südkoreas Fixierung auf schulische und sonstige Leistungen hat sich erstaunlicherweise ausgezahlt. Internationale Wirtschaftsfachleute beschreiben Südkorea häufig als das mit Abstand eindrucksvollste Beispiel dafür, was freie Märkte, eine demokratische Regierung und Muskelkraft zustande bringen können, wenn es darum geht, ein kleines, agrarisches, rückständiges Land zu einem globalen Turbomotor zu machen.
Doch die menschlichen Kosten des aus dem Boden gestampften Reichtums sind nicht weniger eindrucksvoll.
Während die Selbstmordrate in
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