Flucht aus Lager 14
hat, fand in Südkorea zunächst wenig Resonanz, bis sie auf Englisch unter dem Titel The Aquariums of Pyongyang erschien und ein Exemplar auf den Schreibtisch des damaligen US -Präsidenten George W. Bush gelangte. Er lud Kang in das Weiße Haus ein, um mit ihm über Nordkorea zu diskutieren, und nannte später The Aquariums of Pyongyang »eines der eindrucksvollsten Bücher, die ich während meiner Präsidentschaft gelesen habe«. 42
»Ich möchte dieses Land nicht schlechtmachen«, sagte Shin am ersten Tag unserer Bekanntschaft, »aber ich würde sagen, dass von der Gesamtbevölkerung Südkoreas höchstens 0,001 Prozent ein wirkliches Interesse an Nordkorea haben. Ihre Lebensweise erlaubt es ihnen nicht, über Dinge nachzudenken, die jenseits ihrer Landesgrenzen liegen. Sie versprechen sich nichts davon.«
Shin übertrieb das mangelnde Interesse der Südkoreaner an ihren Nachbarn im Norden, doch er hatte einen wunden Punkt getroffen. Das weitgehende Desinteresse irritiert lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen. Überwältigende Belege für anhaltende Gräueltaten in den Lagern im Norden konnten der südkoreanischen Öffentlichkeit bisher kaum eine Reaktion entringen. So hat die Korean Bar Association festgestellt: »Südkoreaner, die sonst in der Öffentlichkeit die Tugend brüderlicher Liebe pflegen, sind auf unerklärliche Weise in einem tiefen Morast der Gleichgültigkeit stecken geblieben.« 43
Als der südkoreanische Präsident Lee Myung-bak 2007 in sein Amt gewählt wurde, nannten nicht mehr als drei Prozent der Wähler Nordkorea als ein primäres Anliegen. Den Meinungsforschern antworteten sie, ihr Hauptinteresse seies, mehr Geld zu verdienen.
Wenn es ums Geldverdienen geht, ist Nordkorea eine grandiose Zeitverschwendung. Die südkoreanische Wirtschaft ist 38-mal so groß wie die nordkoreanische; ihr internationales Handelsvolumen ist 224-mal so groß. 44
Nordkoreas periodisch ausbrechende militärische Aggressivität löst im Süden allerdings einen Aufschrei der Entrüstung aus. Das zeigte sich vor allem 2010, als Nordkorea mit einem U-Boot einen völlig unprovozierten Torpedoangriff auf die Cheonan geführt haben soll, ein Kriegsschiff, das sich in südkoreanischen Gewässern befand. Dabei kamen 44 Seeleute ums Leben. Bei einer anderen Gelegenheit schoss der Norden mehrere Artilleriegranaten auf eine kleine südkoreanische Insel, wobei vier Menschen den Tod fanden. Doch der Wunsch nach einem Vergeltungsschlag scheint nie lange anzuhalten.
Nachdem internationale Untersuchungen ergeben hatten, dass in der Tat ein nordkoreanischer Torpedo die Cheonan versenkt hatte, lehnten es die Südkoreaner ab, sich hinter ihren Präsidenten Lee zu stellen, der forderte, Kim Jong Ils Regierung müsse dafür »einen Preis bezahlen«. Stattdessen wurde Lees Partei bei einer Wahl in der Mitte der Amtszeit des Präsidenten vernichtend geschlagen, was zeigte, dass den Südkoreaner mehr daran gelegen war, den Frieden zu wahren und ihren Lebensstandard zu sichern, als dem Norden eine Lektion zu erteilen.
»Es gibt keinen Sieger, wenn ein Krieg ausbricht, heiß oder kalt«, sagte mir Lim Seung-youl, ein 27 Jahre alter Textilgroßhändler. »Unsere Nation ist reicher und cleverer als Nordkorea. Wir müssen unseren Verstand gebrauchen, statt eine Konfrontation zu wagen.«
Die Südkoreaner haben jahrzehntelang Erfahrungen darin gesammelt, was es bedeutet, mit Vernunft auf die Diktatur im Nachbarland zu reagieren, die rund 80 Prozent ihrer gesamten militärischen Feuerkraft in einem Umkreis von 100 Kilometern vor der demilitarisierten Zone in Stellung gebracht hat, dem schwer bewachten Grenzstreifen, der die beiden Koreas voneinander trennt – eine Diktatur, die wiederholt gedroht hat, Seoul (nur 55 Kilometer von der Grenze entfernt) in ein »Feuermeer« zu verwandeln. Blutige Überfälle des Nordens erfolgen mehr oder weniger regelmäßig alle zehn bis 15 Jahre, vom Überfall 1968 durch ein Killerkommando, das versuchte, den südkoreanischen Präsidenten zu ermorden, über das Bombenattentat auf ein südkoreanisches Passagierflugzeug 1987 (über 100 Tote) und den fehlgeschlagenen Versuch von 1996, mit einem U-Boot ein Kommando von Spezialkräften in Südkorea einzuschleusen, bis hin zum Versenken des Kriegsschiffs im Jahr 2010 und der Beschießung einer Insel mit Granaten.
Diese Angriffe haben das Leben von Hunderten Südkoreanern gekostet, aber sie konnten die Bürger des Landes nicht dazu bewegen, von
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