Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
stahlarmiert und mit den Einschlaglöchern von Tausenden von Schüssen, die im Lauf der Jahre aufsie abgegeben worden waren, übersät. Marino schlenderte in eine Ecke des Raumes, in der die Torsi, Hüften, Köpfe und Beine nackter Schaufensterpuppen wirr durcheinander lagen, so dass der Haufen auf gespenstische Weise an ein Massengrab in Auschwitz erinnerte.
»Sie bevorzugen helles Fleisch, oder?«, fragte er und wählte eine bleiche, fleischfarbene männliche Brust.
Ich ignorierte ihn und öffnete die Schatulle mit meinem Ruger aus rostfreiem Stahl. Plastik klapperte, als Marino in dem Haufen herumwühlte, bis er schließlich den Kopf eines Weißen mit aufgemalten braunen Haaren und Augenbrauen gefunden hatte, den er auf die Brust steckte. Beides zusammen stellte er dann auf eine Pappschachtel vor der Stahlwand, etwa dreißig Schritt entfernt von uns.
»Sie haben ein Magazin, um ihn wegzupusten«, sagte Marino.
Ich lud meinen Revolver und sah auf, als Marino aus seinem Gürtel eine Neun-Millimeter-Automatikpistole zog. Er ließ den Schlitten zurückschnellen, entnahm das Magazin und ließ ihn wieder nach vorn schnappen.
»Fröhliche Weihnachten«, bemerkte er und hielt mir die gesicherte Waffe mit dem Griff nach vorn vor die Nase.
»Nein, vielen Dank«, antwortete ich so höflich wie möglich. »Ihr Ding da hustet fünfmal, und dann sind Sie weg vom Fenster.«
»Nur wenn ich danebenschieße.«
»Unsinn, Doc. Jeder schießt ein paar Schüsse daneben. Das Problem ist, dass Sie mit dieser Ruger da nicht mehr als ein paar haben.«
»Ich gebe lieber ein paar gutgezielte Schüsse mit meinem Revolver ab, als dass ich mit Ihrer Bleispritze da unkontrolliert herumballere.«
»Aber sie besitzt einfach viel mehr Feuerkraft.«
»Ich weiß. Auf zwanzig Meter Entfernung hat sie bedeutend mehr Aufschlagkraft als meine, wenn ich Silvertips-Munition benutze.«
»Und Sie haben mit der Automatikpistole dreimal mehr Schuss zur Verfügung«, ergänzte Marino.
Ich hatte schon vorher mit Neun-Millimeter-Pistolen geschossen, und ich mochte sie nicht. Sie trafen ihre Ziele nicht so genau wie meine .38er Special. Sie waren auch nicht so funktionssicher, weil sie manchmal zu Ladehemmungen neigten. Ich hatte nie Qualität durch Quantität ersetzt, und Sachkenntnis und Training konnte man sowieso durch nichts ersetzen.
»Ein Schuss genügt«, sagte ich und setzte mir ein paar Ohrenschützer auf.
»Ja. Wenn er zwischen die Augen oder direkt ins Herz trifft.«
Ich nahm die linke Hand zu Hilfe, um den Revolver ruhig zu halten, und drückte mehrmals ab. Ich traf die Puppe einmal in den Kopf, dreimal in die Brust, und die fünfte Kugel streifte ihre linke Schulter. All das geschah innerhalb von Sekunden. Der Kopf und der Torso fielen von dem Karton herunter und schlugen mit einem dumpfen Geräusch gegen die Stahlwand. Wortlos legte Marino die Neun-Millimeter auf einen Tisch und zog seine .357er aus dem Schulterhalfter. Ich wusste, dass ich ihn gekränkt hatte. Ohne Zweifel hatte es ihn eine Menge Mühe gekostet, die Automatik für mich zu besorgen. Er hatte geglaubt, mir damit einen Gefallen zu erweisen.
»Vielen Dank, Marino«, sagte ich.
Er ließ die Trommel einschnappen und hob langsam seinen Revolver. Ich wollte noch bemerken, dass ich seine Fürsorge zu schätzen wusste, aber mir war klar, dass er mich weder hören konnte noch wollte.
Ich trat einen Schritt zurück, als er sechs Schuss abgab, so dass der Kopf der Schaufensterpuppe wie wild auf dem Boden herumtanzte. Er stopfte hastig neue Patronen in die Trommel und machte sich über den Torso her. Als er fertig war, lag beißender Pulverdampf in der Luft, und ich war mir sicher, dass ich nie zur Zielscheibe seiner mörderischen Wut werden wollte.
»Es gibt doch nichts Schöneres, als auf jemanden zu schießen, der am Boden liegt«, stellte ich ironisch fest.
»Da haben Sie recht.« Er zog die Stöpsel aus seinen Ohren. »Es gibt wirklich nichts Schöneres.«
Wir zogen einen Holzrahmen heran, der in einer Deckenschiene lief, und befestigten eine Zielscheibe aus Papier an ihm. Als die Patronenschachtel leer war und ich mich wieder einmal davon überzeugt hatte, dass ich noch ein Scheunentor treffen konnte, verschoss ich ein paar weitere Silvertips, um den Lauf durchzublasen, bevor ich ihn mit einem Gewehrreinigungstuch säuberte. Der Geruch des Mittels erinnerte mich immer an Quantico.
»Soll ich Ihnen mal meine Meinung verraten?«, fragte Marino, der seine Waffe
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