Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
ebenfalls reinigte. »Was Sie zu Hause brauchen, ist eine Schrotflinte.«
Ich sagte nichts und legte den Ruger zurück in die Schatulle.
»Wissen Sie, so etwas wie eine halbautomatische Remington, drei Zoll Doppelnull Magnum. Das wäre, als würden Sie einen Kerl mit fünfzehn von Ihren Kugeln auf einmal treffen, dreimal so viel, wie Sie ihm mit dreimal Nachladen hineinpusten können. Wir sprechen von fünfundvierzig gottverdammten Bleiklumpen. Wen das trifft, der hat ausgelitten.«
»Marino«, erwiderte ich ruhig, »ich komme auch so ganz gut zurecht, okay? Ich brauche kein riesiges Waffenarsenal.«
Er sah mich an, und seine Augen waren hart. »Wissen Sie überhaupt, wie es ist, auf einen Kerl zu schießen, der trotzdem immer näher kommt?«
»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete ich.
»Nun, ich weiß es. Als ich noch Cop in New York war, schoss ich mein ganzes Magazin auf so eine Bestie leer, die auf Trip war und völlig durchdrehte. Ich traf den Bastard viermal im Oberkörper, und es hat ihn nicht im Geringsten aufgehalten. Es war wie bei Stephen King, der Kerl kam auf mich zu wie ein verdammter Zombie.«
Ich fand in den Taschen meines Labormantels ein paar Papiertaschentücher und wischte mir damit das Gewehröl von den Fingern.
»Der Irre, der Beryl durch ihr Haus gejagt hat, war so einer,Doc. Wie dieser Verrückte, von dem ich gerade gesprochen habe. Was auch immer er tut, wenn er einmal losgelegt hat, ist er durch nichts mehr aufzuhalten.«
»Der Mann in New York«, fragte ich, »ist er gestorben?«
»O ja. In der Notaufnahme. Wir wurden in demselben Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht. Das war vielleicht eine Fahrt!« »Hatte er Sie schwer verletzt?«
Marino antwortete mit undurchdringlicher Miene: »Nö. Sie brauchten nur achtundsiebzig Stiche, um mich wieder zusammenzuflicken. Fleischwunden. Sie haben mich noch nie ohne Hemd gesehen. Der Kerl hatte ein Messer.«
»Wie schrecklich«, murmelte ich.
»Ich mag keine Messer, Doc.«
»Ich auch nicht«, stimmte ich zu.
Wir verließen den Schießstand. Ich fühlte mich schmutzig vom Gewehröl und den Pulverrückständen. Schießen ist viel schmutziger, als viele Leute meinen.
Als wir zurückgingen, holte Marino seine Brieftasche heraus und gab mir eine kleine weiße Karte.
»Ich habe doch gar keinen Antrag ausgefüllt«, sagte ich, als ich ziemlich verdattert auf die Lizenz starrte, die mir das verdeckte Tragen einer Waffe erlaubte.
»Judge Reinhard schuldete mir noch einen Gefallen.« »Danke, Marino.«
Er lächelte, als er mir die Tür aufhielt.
Entgegen Wesleys und Marinos Verhaltensregeln und wider mein besseres Wissen blieb ich so lange im Büro, bis es draußen dunkel und der Parkplatz leer war. Ich hatte es aufgegeben, auf meinem Schreibtisch Ordnung zu schaffen, und ein Blick auf meinen Terminkalender hatte mir den Rest gegeben.
Rose hatte mein Leben systematisch umorganisiert. Verabredungen hatte sie um Wochen verschoben oder abgesagt und Vorlesungen sowie Lehrautopsien auf Fielding übertragen. Der Leiter des Gesundheitsamtes, mein unmittelbarer Vorgesetzter, hattedreimal versucht, mich zu erreichen, und wollte schließlich wissen, ob ich krank sei.
Fielding sprang mit wachsendem Geschick für mich ein. Rose tippte seine Autopsieprotokolle und Diktate. Sie arbeitete mehr für ihn als für mich. Die Erde hatte nicht aufgehört, sich zu drehen, bloß weil ich nicht im Büro war, und meine Dienststelle funktionierte ohne Probleme, weil ich meine Angestellten mit Bedacht eingestellt und gut ausgebildet hatte. Ich fragte mich, wie sich Gott wohl gefühlt haben mochte, als er sah, dass die Welt, die er geschaffen hatte, ihn nicht länger zu benötigen glaubte.
Ich fuhr nicht gleich nach Hause, sondern nach Chamberlayne Gardens. An den Wänden der Aufzugskabine hingen noch immer dieselben überholten Anschläge. Ich fuhr zusammen mit einer ausgemergelten, kleinen Frau nach oben, die ihre einsamen Augen die ganze Fahrt über nicht von mir abwandte und sich an ihren Krückstock krallte wie ein Vogel an seinen Ast.
Ich hatte Mrs. McTigue nicht von meinem Kommen unterrichtet. Als sich nach wiederholtem lautem Klopfen die Tür Nr. 378 endlich öffnete, spähte sie fragend aus ihrem mit viel zu vielen Möbeln und von lauten Geräuschen aus dem Fernseher angefüllten Bau heraus.
»Mrs. McTigue?«, stellte ich mich noch einmal vor. Ich war nicht sicher, ob sie mich wiedererkennen würde.
Die Tür öffnete sich weiter, und ihr Gesicht
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