Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
steht für ›Mich‹. Sie schrieb Briefe an sich selbst«, erklärte er.
»Die zwei Briefe, die wir gefunden haben«, erklärte ich, »die auf dem Boden in ihrem Schlafzimmer lagen, nachdem man sie ermordet hatte, die Briefe, in denen auch Sie und Walt erwähnt werden, sind an ›M‹ adressiert.«
»Ich weiß«, entgegnete er und schloss die Augen.
»Woher wissen Sie das?«
»Als Sie Zulu und die Katzen erwähnten, wusste ich, dass Sie diese Briefe gelesen hatten. Da sagte ich mir, dass Sie in Ordnung sind, dass Sie die waren, für die Sie sich ausgaben.«
»Dann haben Sie die Briefe auch gelesen?«, fragte ich verblüfft.
Er nickte.
»Wir haben die Originale nie gefunden«, murmelte ich, »die zwei, die wir haben, sind Fotokopien.«
»Das kommt daher, dass sie alles verbrannt hat«, erklärte er, atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.
»Aber ihr Buch hat sie nicht verbrannt.«
»Nein. Sie sagte, dass sie nicht wüsste, wo sie hingehen oder was sie tun würde, wenn er immer noch da, immer noch hinter ihr her wäre. Sie meinte, sie würde mich anrufen und mir sagen, wo ich das Buch hinschicken sollte. Und falls ich nichts von ihr hörte, sollte ich darauf aufpassen und es niemals jemand anderem geben. Wissen Sie, sie hat nicht angerufen. Sie hat einfach nicht angerufen.« Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und wandte sich ab. »Das Buch war nämlich ihre Hoffnung. Ihre Hoffnung, dass sie am leben bleiben würde.« Seine Stimme überschlug sich, als er hinzufügte: »Sie hat niemals die Hoffnung aufgegeben, dass sich alles noch zum Guten wenden würde.«
»Was genau hat sie alles verbrannt, P. J.?«
»Ihr Tagebuch«, antwortete er. »Ich glaube, so könnte man es nennen. Briefe, die sie an sich selbst schrieb. Sie sagte, es sei eine Art Therapie für sie, und sie wollte nicht, dass irgendjemand sie las. Es standen ihre intimsten Gedanken darin. Am Tag, bevor sie abfuhr, verbrannte sie alle Briefe bis auf zwei.«
»Die zwei, die ich sah«, flüsterte ich. »Warum? Warum hat sie diese beiden Briefe nicht verbrannt?«
»Weil sie sie Walt und mir gab.«
»Zur Erinnerung?«
»Ja«, antwortete er, griff nach seinem Bier und rieb sich entschlossen die Tränen aus den Augen. »Als ein Stück von ihr, die Aufzeichnung von Gedanken, die ihr durch den Kopf gegangen waren, während sie hier war. Am Tag, bevor sie fuhr, am Tag, als sie das ganze Zeug verbrannte, ging sie los und fotokopierte diese beiden Briefe. Sie behielt die Kopien und gab uns die Originale. Sie sagte, dass diese Briefe ein magisches Band zwischen uns knüpften, genau das waren ihre Worte. Wir drei würden in unseren Gedanken immer beieinander bleiben, solange wir die Briefe hätten.«
Als er mich zur Tür brachte, drehte ich mich um, legte meine Arme um ihn und drückte ihn zum Dank fest an mich.
Während meines Rückwegs zum Hotel ging die Sonne unter. Palmen standen wie Scherenschnitte vor einem riesigen, leuchtenden Feuerband. Die Menschenmenge schob sich lärmend zu den Bars auf der Duval Street, und die Luft war verzaubert und vibrierte von Musik, Lachen und Licht. Ich ging mit beflügeltem Schritt, den Militärrucksack über meine Schulter gehängt. Zum ersten Mal seit Wochen war ich glücklich, fast euphorisch. Ich war vollkommen unvorbereitet auf das, was mich in meinem Zimmer erwartete.
16
Ich konnte mich nicht erinnern, irgendwelche Lampen brennen gelassen zu haben, und nahm daher an, dass der Zimmerservice vergessen hatte, sie auszuschalten, nachdem er die Bettwäsche gewechselt und die Aschenbecher geleert hatte. Ich hatte schon die Tür verriegelt und summte gerade vor mich hin, als ich am Bad vorbeiging und merkte, dass ich nicht allein war. Mark saß in der Nähe des Fensters vor einem offenen Aktenkoffer, der auf dem Boden neben seinem Stuhl lag. Ich zögerte einen winzigen Moment, und in diesem Augenblick trafen sich unsere Augen in wortlosem Gespräch, das mein Herz vor Schreck erschauern ließ.
Mit seinem blassen Gesicht und seinem grauen Winteranzug sah er aus, als sei er eben erst vom Flughafen gekommen. Seinen Reisekoffer hatte er gegen das Bett gelehnt. Wenn er einen geistigen Geigerzähler gehabt hätte, hätte ihn mein Rucksack sicherlich wie wild losrattern lassen. Sparacino hatte ihn hierhergeschickt. Ich dachte an den Ruger in meiner Handtasche, aber ich wusste, dass ich niemals fähig wäre, eine Waffe auf Mark James zu richten, geschweige denn, im entscheidenden Moment
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