Flucht in die Hoffnung
solchen Kreisen verkehrt.«
In arabischen Ländern gilt eine Frau schnell als Schlampe. Sie
braucht dazu bloß die Haut an Armen oder Beinen zu zeigen, einen Rock zu
tragen, der ihre Knie frei lässt, in der Öffentlichkeit zu rauchen, laut zu
lachen – kurzum: sich frei zu bewegen, wie wir es im Westen gewohnt sind.
Ehrenhafte Frauen verzichten demütig auf ihre Selbstverwirklichung, was im
Übrigen kein Verzicht ist, sondern eine Bereicherung, wie sie es von
Kindesbeinen an lernen.
Farid hatte sich in Tunesien liberal gegeben, doch hier, fern von
seiner Heimat, schien er mir plötzlich so fremd. Manchmal fragte ich mich, was
er denn von mir gedacht hatte, der Touristin, die er an jenem Nachmittag
angesprochen und auf etwas zu trinken an die Bar eingeladen hatte. Ich konnte
mir einfach nicht vorstellen, dass er mich weniger achtete, nur weil ich in
einem anderen Kulturkreis als freie Frau aufgewachsen war.
Was einem selbst fremd ist, das erkennt man auch nicht, wenn andere
es mit einem tun. Mich selbst hatten fremde Kulturen immer fasziniert, und ich
wollte mir nicht anmaßen, über jemanden wegen seines Glaubens oder seiner
Herkunft zu urteilen. Und ich wollte es auch nicht erkennen, wollte weiterhin
meinem Traum anhängen, die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir als Familie
zusammenwachsen würden.
Einige Jahre später sollte ich selbst fürchterlich erschrecken, als
ich Emira vom Teufel sprechen hörte und ich ihr das Kopftuch abnahm, das ihre
Großmutter ihr eng an den Kopf getackert hatte, ja, getackert, so fest saßen
die Nadeln. Doch das lag noch in weiter Ferne. In meinen ersten Jahren mit
Farid war meine Hoffnung stets größer als meine Vernunft, und ich nutzte meinen
Verstand nicht dazu, mir einzugestehen, dass ich gut daran täte, meinen Ehemann
zu verlassen. Wir waren beide nicht glücklich miteinander, das weiß ich jetzt,
aber damals? Da versperrte ich den Blick vor der Realität. Ich entschuldigte
ihn weiterhin und setzte meine gesamte Phantasie ein, um mir selbst zu
erklären, warum er sich mir gegenüber so … abschätzend benahm. Farids forderndes
Verhalten, das ich in den ersten Monaten so anziehend gefunden hatte, wirkte
jetzt rüde auf mich, zumal es voll von Verachtung war. Der wohlige Kokon, der
uns umgeben hatte, war zu einem Netz des Horrors geworden, das sich immer enger
um mich zusammenzog. Bei all der Anstrengung, ihm gerecht zu werden, merkte ich
nicht, dass ich mich vor ihm zu fürchten begann. Dass ich Angst vor meinem
Ehemann hatte und auch deshalb immer seltener den Mut fand, aufzubegehren. Was
für ein Wort: aufbegehren. In welchem Jahrhundert lebte ich, mitten in
Deutschland? Das frage ich mich heute.
Damals dachte ich nicht voraus, ich versuchte, Tag um Tag zu
bewältigen. Vor allem wollte ich verhindern, dass er wie so oft mit
Gegenständen nach mir warf. Das volle Marmeladenglas verfehlte meinen Kopf nur
knapp, und ich bekam die roten Flecke an der Wand nie mehr weg. Als ich die
Wand strich, sah man sie noch immer durch, diesmal heller, was Farid zu
vorwurfsvollen Blicken verleitete, da ich nicht mal die Wohnung sauber halten
konnte.
Um keine weiteren Konflikte heraufzubeschwören, brach ich den
Kontakt mit Tina ab. Wenn ich sie irgendwo sah, wich ich ihr aus. Ich
befürchtete, sie könnte mich fragen, wie es mir ginge. Ich wollte sie nicht
belügen. Ich wollte auch nicht schlecht über Farid sprechen. Er befand sich
schließlich in einer schwierigen Situation, in dem fremden Land, wo er
vielerorts als Terrorist verdächtigt wurde. Ich durfte ihm nicht noch
zusätzlich Druck machen. Vielleicht musste ich lernen, mich noch tiefer in ihn
hineinzuversetzen.
Ich merkte dabei nicht, dass ich ihm in die Hände spielte, indem ich
nur zu bereitwillig die Verantwortung für alle möglichen Missstände auf mich
nahm und mich selbst schuldig sprach. Meine Gedanken kreisten um dieses
ständige Wenn-dann. Wenn ich ihn nicht durch mein Fehlverhalten provozierte,
dann hätte er auch keine so schlechte Laune. Wenn ich ihm ein anständiges Essen
wie daheim in Tunesien vorsetzte, würde er mich als vollwertige Ehefrau
betrachten. Wenn Emira brav war und nicht schrie, dann war ich eine gute
Mutter. Wenn ich mich tiefer in ihn hineinversetzte, dann würden wir wieder
glücklich sein. Schließlich liebten wir uns doch, oder?
Liebe geht durch den Magen, dachte ich – und hatte eine Idee. Bald
schon konzentrierte ich meine ganze Energie auf das Kochen. Bereitete jeden Tag
frischen Couscous
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