Flucht in die Hoffnung
dem entspannten Familienleben im Weg.
Ich fühlte mich nach der Geburt geschwächt. Farid sah keine
Veranlassung, mir auch nur geringfügig zur Hand zu gehen. Der Haushalt war mein
Bereich. Mein lieber Vater brachte uns jeden Tag warmes Essen, denn Kochen war
meine Aufgabe und fiel somit in die Verantwortung meiner Familie.
Mein Vater litt sehr unter der Situation, aber er schwieg und
versuchte mir zu helfen, wo es nur ging.
Meine Schwester Johanna ließ sich nur selten blicken, sie hatte
Angst vor Farid. Mehrmals hatte er sie rüde behandelt. Für Farid war meine
Schwester eine Schlampe, denn sie trug kurze Röcke und hatte einen Freund. So
hatte er in Tunesien niemals über meine Landsleute gesprochen.
Ich selbst erkannte ihn kaum wieder. Wo war der strahlende,
selbstbewusste Charmeur geblieben?
DER TERRORIST IN MEINEM BETT
In den folgenden Wochen pendelte sich so etwas wie Alltag
in unserem Leben ein. Jeden Morgen brachte ich Farid zum Bahnhof. Von dort fuhr
er mit dem Zug eineinhalb Stunden nach Düsseldorf ins Goethe-Institut. Abends
holte ich ihn wieder ab. Er war oft müde und gereizt und erwartete zu Hause
einen mustergültigen Säugling, der keinen Lärm machte. Wenn Emira schrie oder
schlecht schlief, dann war ich schuld, was er mir auch deutlich zu verstehen
gab.
»Warum schläft sie nicht? Was machst du mit ihr? Warum funktioniert
das nicht? Ich weiß wirklich nicht, ob du dich zur Mutter eignest.«
Damit verletzte er mich zutiefst. Zu dicht rührte er damit an der
traurigen Situation mit meinen beiden Söhnen. Ich war mit einem so hohen Ideal
von einer intakten, lebendigen Familie aufgewachsen und kläglich gescheitert.
Das tat weh. Bestimmt meinte er es nicht so, sagte ich mir selbst immer wieder
vor. Er hatte viel Stress mit den täglichen langen Bahnfahrten und den vielen
Vokabeln. Wenn er den Deutschintensivkurs abgeschlossen hatte, würde sich seine
Anspannung hoffentlich lösen.
Längst war es zur Gewohnheit geworden, dieses ständige
Entschuldigen.
In unserer Kleinstadt am Niederrhein kannte jeder jeden – und
ich gehörte nicht dazu, was mir jeden Tag schmerzlich gespiegelt wurde. Ich
wäre so gern wie die anderen Mütter mit ihren Kinderwägen gewesen. Doch mir
fehlte die Zutrittsberechtigung zu ihrem Clan, denn ich war mit einem Araber
verheiratet. Seit dem 11. September galt jeder arabisch aussehende Mann als
potenzieller Terrorist. Das konnte ich deutlich in den misstrauischen Blicken
der Menschen lesen, auch wenn sie es mir nicht ins Gesicht sagten. Ich mied die
Wildwechsel der Kinderwagenfrauen, denn jede Begegnung versetzte mir einen
Stich: Du bist nicht wie wir!
Auch in Tunesien war ich nicht so gewesen wie die Frauen dort,
obwohl ich mich bis zum Gehtnichtmehr angestrengt hatte, um mich einzugliedern
und ja nichts falsch zu machen. Wohin gehörte ich?
Einmal nahm ich all meinen Mut zusammen und besuchte eine
Krabbelgruppe. Ein halbes Dutzend Mütter saß bei
Kaffee und Kuchen an einem Tisch. Die Frauen nahmen mich freundlich auf, doch
ich traute dem Schein nicht. Überall vermutete ich lauernde Blicke und abschätzige
Urteile. Eine der Mütter fand ich ungemein interessant, was mir den Mut
verlieh, über meinen Schatten zu springen und sie zu fragen, ob wir einmal
etwas zusammen unternehmen wollten.
»Leider habe ich gerade wahnsinnig viel um die Ohren«, erwiderte
sie.
Ich fragte nie wieder, obwohl ich später durch Zufall erfuhr, dass
sie und ihr Mann ein Haus bauten. Da hat man naturgemäß wenig Zeit.
Dennoch fand ich nicht raus aus meinem Schneckenhaus. Vielleicht
hatte ich einfach Angst vor dem Kontakt zu normalen Frauen, die mit normalen
Ehemännern in normalen Beziehungen lebten, in denen der Mann keine Gegenstände
nach ihnen warf, sie nicht beschimpfte und erniedrigte.
Wem sollte ich von all den schrecklichen Vorfällen erzählen? Im
Grunde war es besser, niemanden zu kennen, dann musste ich auch nicht reden –
oder lügen, was ja schon Sünde, haram , gewesen wäre.
So weit sind Koran und Bibel nicht voneinder entfernt, »Du sollst nicht lügen«
heißt es in beiden.
Mein Vater erkannte trotz meines Schweigens, was los war. Aber noch
immer sprach er mich nicht darauf an. So etwas wäre ihm gänzlich fremd gewesen.
Er ließ mich mein Leben leben und akzeptierte alles, was ich tat. So war das
schon immer gewesen.
Früher hatte ich das großartig gefunden. Nun wünschte ich mir
manchmal, er würde die Situation mit Farid zur Sprache bringen. Gleichzeitig
war
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