Flucht in die Hoffnung
sie ihrem Schicksal zu überlassen, wie es mir widerfahren
war.
Es gibt ein Sprichwort, das jeder Tunesier kennt: Fi har M’Saken fi lile M’Seken. M’Saken heißt viele Häuser, Seken sind Messer. Das Sprichwort lautet übersetzt:
Tagsüber viele Häuser, nachts viele Messer. Ich vermute, es hat in jedem Land
Gültigkeit.
Farid war sehr stolz auf seine Herkunft. Wer in M’Saken wohnte, galt
als besonders aggressiv.
Ich schöpfte neue Hoffnung, als Farid nach unserer Rückkehr nach
Deutschland eine Assistenzarztstelle im Krankenhaus in Essen erhielt. Er wollte
sofort umziehen, da ihm ein langer Arbeitsweg unzumutbar erschien.
»Lass uns lieber warten, bis du die Probezeit bestanden hast«, bat
ich ihn.
Davon wollte er nichts wissen und beauftragte mich, eine Wohnung in
Essen zu suchen und den Umzug zu organisieren. Ich fand dann auch eine Wohnung,
aber leider klappte meine Organisation nicht wie gewünscht. Der gemietete Wagen
verursachte einen Unfall, und die Polen, die ihn steuerten, waren nicht
versichert, sodass ich den Schaden übernehmen musste. Ich protestierte nicht
mal, ich war inzwischen daran gewöhnt, schuld zu sein. Finanziell wurde es nun
eng. Unser Etat war schmal, und Farid bestellte viel zu gern Dinge im Internet
und abonnierte Zeitschriften. Sein Lebensstil überstieg unsere Verhältnisse bei
Weitem, und schließlich war ich gezwungen, einen Offenbarungseid zu leisten.
Diesmal schämte ich mich zu sehr, meine Großmutter um Geld zu bitten.
Farid kümmerten meine kleinlichen Sorgen und Nöte nicht. Das alles
lag weit unter seiner Würde, er arbeitete schließlich als Arzt im Krankenhaus.
Deshalb konnte er mir auch nicht helfen mit dem Umzug, mit Emira, mit der nicht
enden wollenden Bürokratie.
Es war auch praktisch, denn wenn irgendwo ein Fehler passierte,
musste man nicht lange nach dem Schuldigen suchen. Es war ganz einfach: Ich war
schuld.
In unserer neuen Wohnung auf der Margarethenhöhe in Essen, einer
unter Denkmalschutz stehenden Siedlung, fühlte ich mich wohl. Unsere Nachbarn
waren sympathisch und hatten nichts gegen Araber, und ich freundete mich ein
wenig mit einer Deutschen an, die mit einem Türken verheiratet war.
Das Wichtigste war nun, dass Farid von der Klinik übernommen wurde.
So lange hatte er schon darauf gewartet, zu arbeiten und beruflich gefordert zu
werden. Wenn er die harte Anfangszeit erfolgreich überstanden hätte, würde
alles wie von selbst laufen.
Leider wurde Farid gemobbt und bestand die Probezeit nicht.
»Wie denn – gemobbt?«, fragte ich
schockiert.
»Sie haben mich bezichtigt, ich wäre schuld daran, dass das Labor
voller Blut war. Aber ich war es nicht.«
Ratlos schaute ich ihn an.
»Sag, dass ich es nicht war«, forderte er in gefährlich ruhigem Ton.
»Aber das weiß ich doch nicht, Farid, ich war nicht dabei!«
»Eine Frau hat zu ihrem Mann zu stehen. Immer.«
Ein Blick in sein Gesicht riet mir, dass es am klügsten wäre zu
schweigen. Ich versuchte ihn mit seinem Lieblingsessen zu besänftigen. Es
landete auf dem Teppich.
Ich befürchtete, wir würden nun eine sehr schlimme Zeit durchmachen,
doch Farid verfolgte eine Idee, und das hielt ihn beschäftigt. Jetzt hatte er
Zeit, und bezahlt wurde es auch, wenn er eine gute Erklärung dafür vorbrachte.
Farid stand nämlich auf Kriegsfuß mit seiner Hakennase. Er erklärte
einem Arzt, wie sehr er unter der verkrümmten Nasenscheidewand leide, er bekomme
kaum Luft, und wenn man ohnehin operiere, könne man doch auch diesen unschönen
Höcker abschleifen, oder?
Man konnte.
Der Höcker rührte von einem Autounfall in seiner Jugend. Ich war nicht
traurig bei der Aussicht, dass er verschwinden würde, aber richtig gestört
hatte er mich nie.
Die Operation verlief ohne Komplikationen, Farid wurde mit kleinen,
verschwollenen Augen und einem beeindruckenden Verband, der Emira erschreckte
und zum Weinen brachte, kurz darauf entlassen. Kaum zu Hause, begann die Nase
zu bluten. Unstillbar. Als Arzt wusste er natürlich, was das bedeutete. Zuerst
einmal war ich allerdings schuld, denn ich hatte den Hals-Nasen-Ohren-Arzt
ausgewählt.
»Ein Stümper!«, behauptete er. Dann geriet
er in Panik. Ich brachte Emira zu einer Nachbarin und ihn ins Krankenhaus.
Auch den Ärzten gelang es nicht, die Blutung zu stoppen. Zudem litt
Farid unter entsetzlichen Schmerzen. Er tat mir sehr leid. So hatte ich ihn
noch nie erlebt. Er war nie besonders gläubig gewesen, doch nun rief er Gott
an. Ich hielt seine Hand
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