Flucht in die Hoffnung
und blieb bei ihm in der schrecklichen Sorge, er
könnte verbluten. Ich flehte die Ärzte an, ihm stärkere Schmerzmittel zu geben
und etwas zu tun. Schließlich wurde er notoperiert und musste danach noch eine
Weile im Krankenhaus bleiben. Selbstverständlich besuchte ich ihn jeden Tag.
Als es ihm wieder besser ging, dachte ich, dass diese
Nasengeschichte möglicherweise gar nicht so schlecht gewesen war. Vielleicht
hatte er endlich gemerkt, dass ich zu ihm stand, in guten und in schlechten
Zeiten, und wie sehr ich ihn liebte.
Doch auch die neue Nase brachte uns kein Glück: Nach der Operation
litt Farid an Depressionen. Ich versuchte ihn aufzumuntern, obwohl mir das
schwerfiel, denn wir lebten zwischenzeitlich von Hartz-IV. Aber das war nur
eine Phase, die mussten wir durchstehen. Gemeinsam.
Kurz darauf brauchte ich mir keine Sorgen mehr um Farids Zukunft
zu machen, denn sein Bruder rief an. In einem noblen Ferienclub wurde ein Arzt
für den Thalassobereich gesucht. Die Stelle schien maßgeschneidert für Farid.
Er könnte sich in Djerba als Arzt niederlassen und würde als sichere
Einkunftsquelle die reichen Touristen des Hotels behandeln. Das klang
großartig!
Noch einmal schien sich das Blatt für uns gewendet zu haben.
Endlich!
HEIMKEHR IN DIE HÖLLE
Im Sommer 2004 brach Farid seine Zelte in Deutschland ab.
Ich befürwortete diesen Entschluss. Europa hatte uns kein Glück gebracht. Wir
würden noch einmal von vorne beginnen in Tunesien. Farid würde vor Ort alles
regeln, ich würde die Wohnung in Essen auflösen und mit Emira nachkommen. Ich
war sicher, dass es Farid in seiner Heimat besser gehen würde. Bestimmt würde
sich seine Laune aufhellen, wenn er endlich wieder Sonnenlicht tankte, von
Freunden und seiner Familie umgeben war und in seinem Beruf arbeiten konnte.
Bevor auch ich Deutschland den Rücken kehrte, verlebte ich einige
Wochen mit Emira in Essen und stellte erstaunt fest, wie gut wir ohne Farid
zurechtkamen, wie schön das Leben ohne ihn sein konnte. Der Herbst bescherte
uns einen Altweibersommer wie aus dem Bilderbuch. Stundenlang war ich mit Emira
am Nachmittag draußen. Vormittags gönnte ich mir nach Langem wieder einmal die
Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio, um meinen Körper in Form zu bringen.
Endlich spürte ich mich wieder. Früher war mir mein Körpergefühl so wichtig gewesen.
Wo war die Tina von früher?
Emira hätte am liebsten jeden Tag in der Kinderbetreuung des
Fitnessstudios gespielt, wo sie nicht genug kriegen konnte von den vielen
bunten Bällen. Wir beide waren fröhlich und genossen die stressfreie Zeit
miteinander. Jetzt lernte ich auch andere Mütter kennen, verabredete mich für
kleine Ausflüge in den Tierpark oder auf den Spielplatz. Es ging uns richtig
gut, und das stellte auch meine ehemalige Nachbarin Tina fest.
»Du wirkst viel entspannter, jetzt, wo Farid weg ist«, sagte sie
eines Tages zu mir, als wir uns zu einem Eis verabredet hatten.
Das stimmt, dachte ich insgeheim. Aber durfte das sein? Durfte ich
mich als Frau besser fühlen, wenn mein Ehemann weg war?
»Das ist die Vorfreude auf Tunesien«, wiegelte ich ab.
»Du schaust auch viel besser aus«, ließ Tina nicht locker. »Nicht
mehr so gehetzt und verhärmt.«
»Ja, die Sorgen werden weniger, denn endlich geht es beruflich bei
Farid bergauf«, stimmte ich zu.
Tina streichelte mir über den Kopf. Das hatte sie noch nie gemacht.
Es verwirrte mich. »Bist du wirklich sicher, dass du zurück nach Tunesien
willst?«, fragte sie.
Was für eine Frage! Tunesien war mein Lebenstraum. Mein Mann wartete
dort auf mich. Oder redete ich mir das alles nur ein?
Argwöhnisch erwiderte ich Tinas Blick, dann wandte ich mich rasch
ab. Ihre Fragen drängten mich auf ein gefährliches Pflaster. Ich wollte nichts
davon wissen. Wahrscheinlich war sie bloß neidisch, sagte ich mir. Sie würde
hier nicht so leicht wegkommen mit ihren drei schulpflichtigen Kindern ohne
Vater. Aber wieso sollte ich mich bei ihr für meine Entscheidung rechtfertigen?
Ich war doch schon gar nicht mehr richtig da. Bald würde ich in Djerba leben.
Djerba! Wie geheimnisvoll und vielversprechend das klang! Ein Märchen aus
Tausendundeiner Nacht.
Alles würde wieder gut werden. Farid musste sich endlich nicht mehr
abhängig fühlen von mir. Im Grunde genommen lagen unsere Schwierigkeiten vor
allem daran, dass er mich noch nie hatte versorgen können. Ein Mann sollte für
seine Familie aufkommen, so gehörte sich das in Tunesien. Und selbst
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