Flucht in die Hoffnung
darauf.
»Das da!«
Der Händler nahm es aus dem Stall, schlachtete und rupfte es, und
ich bekam es noch warm in die Hand gelegt. Ich brauchte kein Güte- oder Biosiegel,
um zu wissen, woher das Huhn stammte und ob sein Fleisch frisch war, vor fünf
Minuten hatte ich es gackern gehört. Zu Hause nahm ich das Huhn dann aus, das
war alles meine Aufgabe, niemand erledigte es für mich: tatsächlich sind
Innereien nicht von Natur aus in einem kleinen Plastiksäckchen untergebracht,
wie viele deutsche Kinder glauben mögen.
Beim Metzger in Tunesien sah es auch nicht so aus, als wäre das
Fleisch aseptisch in einer Kühlkammer gewachsen. Vor den Läden hingen Kuh- oder
Schafsköpfe manchmal in der prallen Sonne. Natürlich war das für mich
gewöhnungsbedürftig. Doch mit der Zeit lernte ich, meinen Ekel zu überwinden.
Ich fragte mich, wovor ich mich eigentlich ekelte. Zu Hause in Deutschland
hatte ich immer weggeschaut. In Tunesien käme man gar nicht auf die Idee, zu verbergen
und zu beschönigen, dass Fleisch von Tieren stammt – das darf man ihm ansehen.
Fleisch hat einen ganz anderen Stellenwert und wird hoch geschätzt, es kommt
auch nicht jeden Tag auf den Tisch. Aber das, was serviert wird, schmeckt
unvergleichlich besser als das Fleisch aus den Supermärkten, das ich mir
leisten konnte.
Wenn ich in den Discountern nach Sonderangeboten stöberte, wurde mir
bewusst, wie sehr ich die tunesischen Märkte vermisste, diese bunten, sinnlichen
Genüsse. Überall frisches Gemüse und Kräuter und allein die Gerüche! Ich sehnte
mich sogar nach dem Fischmarkt, auf dem es entsetzlich stank. Aber das alles
gab es hier nicht. So wurde ich nachlässig und verlor die Lust am Kochen. Wie
die meisten Kinder war Emira beim Essen zufrieden mit Fischstäbchen und
Kartoffelbrei, Sauerkraut und Bratwürstchen, Nudeln mit Tomatensauce. Ich
selbst aber verlor ein Stück Lebensqualität.
Meine Tochter war überglücklich im Kindergarten, schloss schnell
Freundschaft und vermisste Tunesien nicht im Geringsten. Das entlastete mich
ein wenig, doch nicht genug, denn ich litt nach wie vor darunter, dem Staat auf
der Tasche zu liegen. Als alleinerziehende Mutter hatte ich keine Ahnung, wie
ich das ändern sollte. Und mein geheimer Wunsch, nämlich meinen beiden Söhnen
ein zweites Zuhause zu geben, rückte unter diesen Umständen noch weiter in die
Ferne. Meine Gedanken waren immer bei ihnen, doch mir war klar, dass eine vage
Begegnung sie nur aus der Bahn werfen würde – was konnte ich Ihnen schon
bieten? Sie hatten es gut und ich musste erst wieder auf eigenen Beinen stehen.
Dass dies noch Jahre dauern sollte, war mir damals zum Glück noch nicht klar.
Nachdem er mich eine Weile in Ruhe gelassen hatte, startete
Farid seinen Telefonterror. Gefühlte zwanzig Mal am Tag rief er an. Zuerst
verliefen die Gespräche wie üblich. »Wann kommst du wieder? Ich brauche
dringend ein neues Stethoskop.«
Ich sagte Farid nicht direkt, dass ich überhaupt nicht mehr
zurückwollte, denn darüber war ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher. Ich war
nicht glücklich in Deutschland, was ich ihn selbstverständlich nicht wissen
ließ. Es tat mir gut, über diese Distanz mit ihm zu sprechen, endlich wagte ich
es, ihm meine Meinung zu sagen. Ich war weit weg, in Sicherheit, und ich konnte
jedes Gespräch nach Belieben beenden. Farid auch – und er machte häufig
Gebrauch davon.
Obwohl er unbedingt wollte, dass ich zurückkehrte, warb er nicht um
mich. Er sprach nicht einmal besonders freundlich mit mir. Er forderte,
verlangte, drohte und wurde immer massiver. Eines Tages fand er meine
Handynummer heraus und schickte mir ständig SMS .
Ich schreckte zusammen, wenn ich den Klingelton hörte, und überlegte, ob ich
mir eine Geheimnummer zulegen sollte, weil ich diese ständigen Kontrollen nicht
mehr aushielt. Er terrorisierte mich nicht nur am Tag, sondern auch mitten in
der Nacht, riss mich aus dem Schlaf und bombardierte mich mit Vorwürfen. Ich
war schuld. Und außerdem wollte er seine Tochter wiederhaben.
»Gib sie mir!«, verlangte er am Telefon.
Fröhlich erzählte Emira ihrem Papa, wie gut es ihr in Deutschland
gefalle und wie viele Freundinnen sie hier habe.
»Vermisst du mich denn nicht?«
»Ja«, sagte Emira artig und plapperte munter weiter, dass sie für
immer in Deutschland bleiben wollte.
Da schrillten die Alarmglocken bei Farid, und er setzte Emira
emotional unter Druck, erzählte ihr, wie traurig sie ihren Papa machen würde,
und
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