Flucht in die Hoffnung
Emira,
sondern ihre Cousins und Cousinen. Puppen wurden in Farids Familie zudem als
kindisch abgewertet. Emira war schon fast sechs, da brauchte sie nicht mehr mit
Puppen zu spielen. Ein Mädchen in diesem Alter konnte den Frauen in der Küche
helfen.
Emira wollte mir unbedingt ihre Schule zeigen. Auch dort kam sie mir
wie ferngesteuert vor. Was war nur aus meinem kleinen Mädchen geworden? Ein
Kind muss doch frei spielen dürfen und sich entfalten! Das war Emira
schließlich gewöhnt! Sie selbst spürte es auch, doch sie war zu klein, es in
Worte zu fassen, und so sagte sie nur leise: »Mama, bleib bei mir. Bitte.«
Sie wünschte sich, dass ich einen ganzen Schultag mit ihr
verbrachte. Doch schon nach einer halben Stunde auf dem Schulhof war mir klar,
wie groß die Diskrepanz zwischen Emiras Lehrern und den Pädagogen war, bei
denen ich damals lernen durfte. Wie jede Mutter wünschte ich mir für meine
Tochter eine Umgebung, in der sie sich entfalten konnte, lachen, mit Freude
lernen. Und keinen Ort, an dem die Prügelstrafe offensichtlich noch ein
gängiges Mittel war. Es tat mir in der Seele weh. Ich wusste, dass ich sie da
rausholen musste. Schnell. Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle
mitgenommen. Doch das ging nicht, und es war hart. Vorerst konnte ich sie nur
trösten: »Halte durch, mein Schatz. Bald beginnen die Sommerferien! Halte durch.«
Stumm nickte sie und ließ mich gehen ohne Tränen, meine tapfere
Tochter.
DER GESTOHLENE PASS
Mohamed und ich renovierten unsere Wohnung und bereiteten
alles vor, um Emira zu zeigen, wie sehr wir uns auf sie freuten. Ihr Zimmer
erstrahlte in Lindgrün und Rosarot; Mohamed hatte eine Kletterwand montiert und
ich das Himmelbett bezogen. Sie sollte sich wohl und gut behütet fühlen.
Mit einem mulmigen Gefühl parkte ich mein Auto in M’Saken. Würde
Farids Familie Emira auch wirklich herausgeben? In meiner Tasche steckte ein
amtliches Schreiben, das mich offiziell berechtigte, die Ferien mit Emira zu
verbringen. Die Übergabe des Kindes sollte auf der Polizeistation stattfinden,
wie ich am Telefon erfahren hatte.
»Warum denn das?«, wollte ich beunruhigt wissen.
»Das ist eben so«, behauptete Farids Vater unwirsch.
Langsam ging ich auf die Polizeistation zu. Mein Herz klopfte bis
zum Hals. Ich werde nicht weinen, nahm ich mir vor. Ich werde das hier jetzt
ruhig und souverän hinter mich bringen. Gleich habe ich es geschafft, und dann
machen wir uns schöne Ferien. Als ich die Polizeistube betrat, fühlten sich
meine Knie an wie aus Gummi.
»Emira!« Mein Kind sprang mir entgegen. Unwillig knurrte Farids
Vater. Ich begrüßte ihn und die anwesenden Polizisten freundlich. Emira brach
mir fast die Hand, so fest hielt sie mich.
»Haben Sie den deutschen Pass Ihrer Tochter dabei?«,
wollte ein Polizist wissen.
Ich nickte.
»Kann ich den mal sehen?«
Ich dachte mir nichts dabei und reichte den Pass über den Tresen.
Der Polizist musterte ihn aufmerksam. Dann klappte er ihn zu und legte ihn auf
einen Stapel anderer Pässe in einem Regal.
»Was soll das!«, rief ich. »Das ist Emiras
Pass!«
»Den behalten wir hier, bis Sie das Kind zurückbringen. Sobald Emira
wieder bei ihren Großeltern ist, können Sie den Pass abholen.«
»Ist das normal? Dürfen Sie das?«
Er zuckte mit den Achseln und wandte sich ab. Vielleicht hätte ich
in diesem Moment insistieren sollen, doch was hätte das gebracht? Willkür kann
man mit Worten allein nichts entgegensetzen, schon gar nicht als Frau auf einer
tunesischen Polizeibehörde, und ich wollte keine Szene vor Emiras Augen.
Außerdem hatte ich Angst, dass etwas vorfallen könnte und mir die gemeinsamen
Ferien mit Emira versagt würden. In diesem Moment war ich vor allem
erleichtert, dass uns keine Steine in den Weg gelegt wurden und ich Emira ohne
Probleme mitnehmen durfte. In Wirklichkeit wurde mir ein nahezu unüberwindlicher
Felsbrocken in den Weg gelegt, was ich jedoch erst im Nachhinein erkennen
sollte.
Emiras deutschen Pass sollte ich nie mehr wiederbekommen. Ohne Pass
ist man niemand. Man existiert nicht. Ohne Pass kann man ein Land nicht
verlassen. Ohne Pass ist man in gewisser Weise verloren. Auch als kleines
Mädchen. Emiras Pass war – wie es vorne aufgedruckt stand – Eigentum der
Bundesrepublik Deutschland. Insofern stahl der tunesische Staat dem deutschen
ein Dokument. Es ist nicht erlaubt, einen Pass einfach so einzuziehen, das ist
reine Willkür, die jeder Gesetzesgrundlage entbehrt. Doch das erfuhr
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