Flucht in die Hoffnung
Rolle, was ein Kind möchte.«
»Gib sie mir.«
»Sie ist mit den Nachbarskindern beim Spielen.«
Zwei Stunden später stand Farid in Begleitung von drei Polizisten
vor der Tür und verlangte die Auslieferung seiner Tochter.
»Emira möchte hierbleiben!«, erklärte ich
erneut. »Uns geht es gut. Du würdest dich doch nicht um sie kümmern können. Du
würdest sie wieder bloß zu deiner Familie geben. Nie hast du Zeit. Du bist auch
nicht in ihre Nähe gezogen, wie es das Gericht verlangt hat. Bitte, lass sie
bei mir. Ich bin doch ihre Mutter!«
Einer der Polizisten hielt mir ein amtliches Dokument unter die
Nase, das ich natürlich nicht lesen konnte und das wahrscheinlich beweisen
sollte, dass das Recht auf Farids Seite stand.
»Einen Moment bitte«, sagte ich und schloss die Tür. Emira war beim
Klang der Stimme ihres Vaters in die hinterste Ecke ihres Zimmers geflohen. Ich
nahm sie bei der Hand und lief mit ihr durch den Hinterausgang und den Garten
zu meinem Vermieter, dem Notar.
»Du musst Emira ihrem Vater ausliefern«, sagte er. »So ist das
Gesetz.«
»Nein!«, widersprach ich. »Der Richter hat
gesagt, das Kind darf entscheiden.«
Er schüttelte den Kopf. Heute weiß ich, dass er keine Wahl hatte.
Auch er war der Willkür des Staates ausgesetzt. Als würde er mir beistehen
wollen, begleitete er mich und wiederholte dann aber im Beisein der Polizisten:
»Du musst Emira ihrem Vater übergeben.«
»Nein, das werde ich nicht tun! Ich weiß, dass ich das nicht muss.
Sie möchte nicht! Sie hat Angst!«
»Nicht nach M’Saken, nicht nach M’Saken«, brüllte Emira. »Ich will
bei meiner Mama bleiben!« Das wiederholte sie auch
noch auf Tunesisch, riss sich los und kauerte sich erneut in die Ecke.
»Willst du dein Kind unglücklich machen?«,
fauchte ich Farid an.
Er stürzte sich auf mich, umklammerte meinen Hals und schüttelte
mich. Die Polizisten rissen ihn zurück und befahlen ihm, Abstand zu halten.
Allerdings nicht streng, sondern eher nachlässig und so, als pflegten sie ein
freundschaftliches Verhältnis zu ihm.
»Ich habe nichts mehr zu sagen«, erwiderte ich und schloss die Tür.
Als die Polizei mit Farid weggefahren war, ließ ich mich im
Krankenhaus untersuchen, röntgen und fotografieren. Mit einer Halskrause wegen
des Schleudertraumas erstattete ich bei der Polizei Anzeige gegen meinen
Exmann. Ich sollte ihn noch öfter anzeigen. All diese Anzeigen verliefen im Sande,
die Dokumente, die ich später ans Gericht geschickt hatte, waren plötzlich
nicht mehr auffindbar, so als sei nie etwas geschehen. Offenbar verfügte Farid
über die besten Kontakte zum Innenministerium. Er nutzte vermutlich jede
Möglichkeit, seinen Status als Arzt zur Machtdemonstration einzusetzen und sich
andere gefügig zu machen, sodass er seine Ziele erreichte. Er hatte einmal im
Streit damit gedroht, dass seine Verbindungen bis hin zur Trabelsi-Familie des
Diktators Ben Ali reichten, auch wenn er es später, als der Diktator gestürzt
war, vehement bestritt: Mit solchen Leute hätte er niemals etwas zu tun gehabt.
VOR GERICHT
Emira fand in der Schule schnell Anschluss, lernte gern
und sah nun aus, wie es sich für eine fröhliche Sechsjährige gehörte. Ich war
unendlich dankbar, dass wir zusammen sein konnten – ein kleine, glückliche
Familie. Mohamed arbeitete noch immer als Stuckateur und angelte in seiner
Freizeit, ich besorgte den Haushalt. Eines Tages brachte Mohamed ein viertes
Familienmitglied nach Hause: einen Welpen, den er in einer Mülltonne winseln
gehört hatte. Er schenkte das kleine Wollknäuel Emira, und sie taufte es auf
den Namen Lucy.
Jetzt waren wir wieder komplett – wenn wir auch in »schlampigen«
Verhältnissen lebten. Wir fühlten uns zwar als richtige Familie, durften das
jedoch nicht offiziell bestätigen lassen, denn wenn ich Mohamed geheiratet
hätte, wäre das Sorgerecht für Emira endgültig und unwiderruflich an Farid gefallen.
Der Chef des Jugendamts besuchte uns mehrfach und verfasste einen günstigen
Bericht, aus dem eindeutig hervorging, dass Emira bei ihrer Mutter und nur bei
ihrer Mutter leben wollte. Es wurde ein Gerichtstermin angesetzt, und weil ich
mittlerweile wusste, auf welche Weise in Tunesien Recht gesprochen wurde,
beauftragte ich einen Anwalt, der mit dem Familienrichter in Djerba verwandt
war. Das war im Übrigen mein einziges Kriterium gewesen – und es verhalf mir zu
einem Sieg vor Gericht: Nach eineinhalb Jahren Kampf erhielt ich Ende 2008
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