Flucht in die Hoffnung
Not betroffen, denn im
Verhältnis zu vielen anderen ging es uns sehr gut, doch ich nahm Anteil an dem
Schicksal meiner Nachbarn. Mohamed und ich lebten sparsam, und wenn wir seine
Familie oder Freunde besuchten, brachten wir Fleisch und andere Lebensmittel
mit, die nicht auf dem täglichen Speiseplan standen, wie Shrimps oder
Tintenfisch.
Auf den Straßen störten mich die ständigen Kontrollen der Polizei.
Es wurden immer nur die Loagen, die Sammeltaxen kontrolliert. Gerade die arme
Bevölkerung, die sich kein Auto leisten konnte, war auf Sammeltaxen angewiesen
und hier der Willkür des Polizeistaates ausgesetzt. Es empörte mich, wie
ungleich reiche und arme Menschen behandelt wurden. Dass die armen Menschen bewusst
klein gehalten und systematisch eingeschüchtert wurden. Sie sollten pausenlos
Rechenschaft abgeben: Wo kommst du her, wo willst du hin, was
hast du in deiner Tasche, öffne sie, bleib stehen, setz dich hin, warte.
Das alles führte zu einem Klima der Angst und Unterdrückung, das
sich auf mich übertrug, in mich einsickerte und mir das Leben vergällte. Auch
Emira spürte das. Sie reagierte genauso allergisch wie ich auf jede Form der
Staatsmacht oder Bürokratie. Wir waren beide traumatisiert, doch das allein war
es nicht: Die allgegenwärtige Kontrolle nahm den Menschen die Luft zum Atmen.
Mein Traum von Tunesien verblasste in all den negativen Erfahrungen, die ich
nun in meinem Alltag machte, da ich nicht mehr die privilegierte Frau des Herrn
Doktor war, sondern unter einfachen Tunesiern lebte.
Vielleicht hätte ich das alles wegstecken können – doch ich war
schwanger und somit extrem dünnhäutig. Mohamed platzte fast vor Stolz, als er
erfuhr, dass es ein Junge werden würde. Letztlich sollte dieser Wonneproppen
über vier Kilo wiegen. Mohamed wusste genau, woran das lag: »Weil ich stets
viel Honig und viele Mandeln gegessen habe.«
Ich konnte mir nicht vorstellen, das Kind in Tunesien zu bekommen,
wo Hausgeburten unüblich waren, von einem Geburtshaus ganz zu schweigen. Das
machte mich zusätzlich traurig, denn die Tatsache, dass die Frauen hier die
Schwangerschaft und Geburt an Ärzte und Krankenhäuser delegierten, zeigte
einmal mehr ihre Unsicherheit. Die meisten vertrauten ihrem eigenen Körper
weniger als fremden Medizinern. Das war zum Teil auch in Deutschland so, aber
dort gab es zumindest die Möglichkeit, natürlich zu gebären, und immer mehr
Frauen ließen sich darauf ein und achteten auf die Signale ihres Körpers. Und
selbst das unpersönlichste Krankenhaus in Deutschland wäre noch ein heimeliges
Nest im Vergleich zu den Kliniken gewesen, die mir in Tunesien offen standen.
Im fünften Monat flog ich nach Deutschland, um mich dort wieder
anzumelden und eine Wohnung zu suchen, was mich sehr anstrengte, da es diesmal
unverhältnismäßig heiß war. Mein Plan war, mein Kind in Deutschland zu bekommen
und Emira zu uns zu holen. Bislang hatte ich keine Veranlassung gesehen, Emira
nach Deutschland zu bringen, denn ich lebte mit Mohamed glücklich in Tunesien.
Doch nach all meinen Erkenntnissen in den letzten Wochen und Monaten konnte ich
mir ein Leben dort nicht mehr vorstellen. Es war nicht allein die Geburt, die
mich nach Deutschland trieb. Man spürte förmlich, dass es in Tunesien nicht
mehr lange so weitergehen könnte. Die Kluft zwischen der einfachen Bevölkerung
und dem Staat riss auf, die allgegenwärtige Armut würde Folgen haben – doch
welche? Aufstände? Eine Militärdiktatur? Ich durfte unser Leben nicht schleifen
lassen in der Hoffnung, es würde sich schon alles regeln. Auch wenn das vorübergehende
Opfer für uns alle bedeutete.
Mir brach es fast das Herz, dass ich für einige Wochen so weit weg
von Emira sein würde, doch ich versuchte, es zu überspielen, um sie nicht gefühlsmäßig
unter Druck zu setzen. Ich wollte ihr ein Vorbild sein. Sie sollte sehen, dass
ich es mit Fassung trug, und aus dieser Haltung Kraft schöpfen. Vielleicht
machte ich mir mit solchen Gedanken auch etwas vor, doch ich hatte keine andere
Wahl, als sie nach M’Saken zu bringen, denn bei Mohamed durfte ich sie nicht
lassen, damit hätte ich Farid alle Trumpfkarten in die Hand gespielt.
Ich war auch nicht mehr die Jüngste, und meine Schwangerschaft
machte mir zu schaffen. Nach zwei stressigen Monaten hatte ich alles
organisiert und kehrte voller Zuversicht nach Tunesien zurück, wo ich die
letzten Wochen bis zur Geburt bleiben wollte. Leider verliefen diese nicht so
unkompliziert,
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