Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
fragte sie ihren Mann. "Mary und ich haben zusammen in der Schneiderei deines Vaters das Nähen gelernt. Sie hat mit zwanzig einen Thomas Jones geheiratet und ist mit ihm nach Sandwich gezogen. Nach seinem Tod hat sie sich in Sandwich als Näherin einen Namen gemacht. Ich werde ihr schreiben und fragen, ob sie unsere Diana für einige Wochen aufnehmen kann."
"Du willst Diana also tatsächlich nach Susan suchen lassen, Abigail?" fragte ihr Mann zweifelnd. "Sie ist erst achtzehn und hat noch nie etwas anderes gesehen, als einen kleinen Teil von London. In Sandwich werden wir sie nicht beschützen können."
"Bitte, Onkel George", bat Diana. "Ich muß nach Susan suchen. Sie ist meine Schwester. Wenn sie bei mir ist, werde ich mich nicht mehr so verloren fühlen. Meine Brüder und meine Eltern sind tot. Susan weiß es noch nicht einmal. Es gibt sicher einen guten Grund, weshalb sie mir nicht geschrieben hat." Oder sie hat mir geschrieben und Vater hat mir ihren Brief nicht ausgehändigt, fügte sie in Gedanken hinzu.
George Coleman atmete tief durch. Als Vormund trug er die Verantwortung für seine Nichte. Es war seine Pflicht, sie zu behüten und zu beschützen, bis er die Sorge um sie in die Hände eines zukünftigen Ehemannes legen konnte. Andererseits handelte es sich bei seiner Nichte um eine sehr gewissenhafte junge Frau, das hatte sie oft genug bewiesen. Sie war nicht so leichtsinnig wie Susan, die schon als Kind kaum zu bändigen gewesen war. Kein Kind im Haus hatte so oft den Stock zu spüren bekommen wie sie. Es hatte nichts genützt. Susan hatte aller Strafen zum Trotz ständig versucht, sämtliche Verbote zu umgehen.
"Ich werde es mir überlegen, Diana", versprach er. "Aber bitte dränge mich nicht. So eine Überlegung braucht ihre Zeit."
Diana erhob sich. Sie legte von hinten die Arme um den Nacken ihres Onkels. "Danke", sagte sie.
"Schon gut, schon gut." Er räusperte sich. "Du solltest dich hinlegen. Es war ein langer Tag, Diana. Nach all den Strapazen der letzten Wochen mußt du wieder zu Kräften kommen."
Diana wünschte ihrem Onkel und ihrer Tante eine gute Nacht und ging in das Zimmer ihrer Cousinen, wo ein Bett für sie aufgeschlagen worden war. Im Schein einer Kerze zog sie sich aus. Mit einiger Mühe schaffte sie es, die Haken ihres Korsetts allein zu lösen. Rasch zog sie sich ihr Nachthemd über und schlüpfte unter die Decke.
So müde sie auch war, sie konnte nicht schlafen. Sie dachte an ihre Eltern und ihre Brüder, die nun vereint in der kalten Erde ruhten. Was hätte sie darum gegeben, noch einmal die Stimme ihrer Mutter zu hören. Ich werde Susan finden, dachte sie, ich muß sie finden.
* * *
Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß Diana Coleman mit der Eisenbahn fuhr. In der Nacht vor ihrer Abreise hatte sie kein Auge zugetan, so aufgeregt war sie gewesen. Am Morgen war sie von der ganzen Familie zum Bahnhof gebracht worden. Ihre Cousinen und Cousins beneideten sie glühend. Wie sie hatten sie noch nicht sehr viel von der Welt gesehen. Sie konnte sich kaum vorstellen, bereits am Abend in Sandwich zu sein. Mit der Postkutsche hätte es viel länger gedauert.
Während Diana aus den Zugfenster in die vorüberfliegende Landschaft schaute, überlegte sie, wie Mary Jones wohl aussah. Mrs. Jones hatte umgehend auf den Brief ihrer Tante geantwortet und sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. 'Ich kann Hilfe gebrauchen, Abigail, da Lady Baxter von Baxter Hall ein Kind erwartet und man mir bereits mitgeteilt hat, daß ich für dessen Ausstattung zu sorgen habe. Deine Nichte ist also bei mir hoch willkommen.'
Mehr hatte Mary Jones nicht über die Baxters geschrieben, aber wie es aussah, kannte sie die Familie gut und war sicher mit den Verhältnissen auf Baxter Hall vertraut.
Diana konnte sich an der Landschaft, durch die sie fuhren, kaum satt sehen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß es so grüne Wälder gab, so üppige Weiden und weite Felder. Ab und zu passierten sie ein kleines Dorf mit windschiefen Häuschen, sorgsam gepflegten Gärten und alten Kirchen, die zum Teil noch aus der Normanenzeit stammten.
Gegen Mittag nahm sie einen Roman von Anne Bronté aus ihrem Handgepäck und begann zu lesen. Immer wieder warf sie einen Blick aus dem Zugfenster. Ab und zu hielten sie an einem Bahnhof. Einmal stieg ein älteres Ehepaar zu ihr ins Abteil, ein anderes Mal eine Mutter mit zwei ziemlich lebhaften Kindern. So gern sie sich mit den anderen Reisenden unterhalten hätte, sie hielten von
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