Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Tante in den ersten Stock hinunter. Gleichgültig beobachtete sie die bizarren Schatten, die das Licht der Lampe an die Wände warf. Sie kannte jeden Raum dieses Hauses, wußte, welche Stufen knarrten und welche nicht. Als Kind war sie verbotenerweise die Treppengeländer hinuntergerutscht. Zusammen mit ihrer Schwester, den kleinen Brüdern und den Kindern der Tante hatten sie jeden Winkel des weitläufigen Kellers erkundet und waren dort auf Schatzsuche gegangen. Nun war ihr das Haus fremd geworden, fühlte sie sich nur noch wie ein Gast.
Die Kinder hatten bereits in der Küche zu Abend gegessen und waren zu Bett gegangen. Georg Coleman saß im Salon vor dem flackernden Kaminfeuer und blätterte achtlos in einem Buch. Als seine Frau und Diana eintraten, erhob er sich und rückte für seine Nichte einen Stuhl.
Diana starrte in die Flammen und hörte auf das Knistern des Feuers. Die Wärme tat ihr wohl. Sie spürte, wie sie sich entspannte.
"Diana möchte etwas mit uns besprechen, George", sagte Abigail Coleman." Sie legte eine Hand auf die Schulter der Nichte. "Vorher sollten wir jedoch essen. Ich werde Sarah sagen, daß sie auftragen kann."
Diana spürte nicht den geringsten Appetit, dennoch folgte sie ihren Verwandten ins Eßzimmer. Sie zwang sich, von der Hühnersuppe und dem Hammelfleisch zu essen. Das Schlucken fiel ihr schwer. Noch immer konnte sie nicht fassen, daß ihre Eltern und ihre Brüder nicht mehr lebten. Ihr blieb nur noch Susan. Seit ihre Schwester vor vier Jahren das Haus verlassen hatte, hatte sie nichts mehr von ihr gehört.
Bei einer Tasse heißer Schokolade, ein Luxus, den es gewöhnlich nur an Feiertagen gab, saß Diana nach dem Essen mit ihren Verwandten im Salon zusammen. Die dichten Vorhänge sperrten Nacht und Regen aus. Das Hausmädchen hatte Holz nachgelegt, so war es angenehm warm.
"Du mußt dir um deine Zukunft keine Sorgen machen, Diana", meinte George Coleman. "Die Schneiderei gehörte deinem Vater und mir zu gleichen Teilen. Nach dem Tod deiner Eltern ist nun sein Anteil auf mich übergegangen. Es ist genügend Geld für deine Aussteuer und deinen Unterhalt da. Ich werde es gut für dich anlegen. Außerdem erhältst du weiterhin deinen Lohn als Näherin."
Diana atmete tief durch. "Ich möchte Susan suchen", sagte sie. "Sie ist meine Schwester und..."
"Vergiß nicht, daß Susan Schande über unsere Familie gebracht hat, Diana", fiel ihr George Coleman ins Wort. "Dein Vater hatte guten Grund, deine Schwester aus dem Haus zu weisen. Frauen wie sie dürfen nicht mit anständigen jungen Mädchen zusammensein. Außerdem bezweifle ich, daß wir weiterhin Damen aus der Gesellschaft zu unseren Kunden hätten zählen dürfen, wenn sich dein Vater nicht zu diesem Schritt entschlossen hätte. Susan hat ihm und deiner Mutter sehr wehgetan."
"So kann auch nur ein Mann reden, George", bemerkte Abigail Coleman erregt. "Susan ist schließlich nicht allein in die Umstände gekommen."
"Das ist anzunehmen", bemerkte ihr Mann trocken. "Leider hat sie nie den Namen des Mannes verraten, der sie mit einem Kind sitzengelassen hat." Er blickte Diana an: "Selbst wenn ich dir erlauben würde, nach deiner Schwester zu suchen, du hast keinen Anhaltspunkt, wo sie sich aufhalten könnte."
Die junge Frau preßte die Lippen zusammen. Ruckartig hob sie den Kopf. "Susan hat mir den Namen verraten", gestand sie. "Susan wollte nach Sandwich fahren, um mit ihm zu sprechen. Sie hoffte, daß er ihr helfen würde."
"Nur helfen, nicht heiraten?" George Coleman ließ sich von seiner Frau Schokolade nachschenken. "Wer ist dieser Mann?"
"Andrew Baxter", antwortete Diana. "Sie haben sich durch Zufall im Regent's Park kennengelernt und ineinander verliebt. Susan wollte mir schreiben. Sie hat es nicht getan. Vielleicht kann ich in Sandwich herausfinden, wo sie lebt."
George Coleman trommelte leicht mit den Fingerspitzen auf das Tischchen, das vor ihm stand. "Andrew Baxter aus Sandwich", wiederholte er. "Handelt es sich bei ihm etwa um den Sohn Sir Richard Baxters, der vor acht Jahren von Quinn Victoria wegen seiner Verdienste um England geadelt wurde?"
Diana nickte. "Susan konnte seinen Namen nicht verraten, weil er verheiratet ist", sagte sie. "Sie wollte ihn auch nur um Hilfe bitten. Seine Familie sollte nichts davon erfahren."
"Äußerst edelmütig von Susan", mischte sich Abigail Coleman ein. "Ich habe viel von deiner Schwester gehalten." Sie dachte kurz nach. "Kannst du dich an Mary Jones erinnern, George?"
Weitere Kostenlose Bücher