Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Mutter gewacht, wie sie zuvor an den Betten ihrer Brüder und ihres Vaters gewacht hatte.
"Gehen wir", schlug George Coleman vor und ergriff den Arm seiner Nichte. "Vergiß nicht, du bist nicht allein, Diana. Du hast Tante Abigail, die Kinder und mich. Wir werden immer für dich einstehen."
Diana blickte zu ihrem Onkel auf. Er war ein großer Mann von Mitte vierzig und überragte alle anderen um fast einen Kopf. "Danke, Onkel George", antwortete sie. "Ich weiß, daß ich mich auf euch verlassen kann."
Trotz des schlechten Wetters hatten nicht nur die Verwandten an der Beerdigung ihrer Mutter teilgenommen, sondern auch einige der Nachbarn und Freunde. Zusammen mit ihnen gingen sie zu den Kutschen, die vor dem Friedhof warteten, um nach Hause zu fahren, wo ihre Tante zum Tee geladen hatte.
Das Haus der Colemans, in dessen Untergeschoß sie eine Schneiderei betrieben, lag in der Nähe des Londoner Blumen- und Gemüsemarktes, nicht gerade die beste, aber auch nicht die schlechteste Gegend der Stadt. Diana hatte niemals Not kennengelernt. Ihre Eltern hatten genügend verdient, um sogar ein Hausmädchen zu beschäftigen.
Nur wenige Meter vom Haus entfernt befand sich ein Garten, den sich die Colemans mit ihren Nachbarn teilten. Hierhin hatte sich Diana oft zurückgezogen, wenn sie allein sein wollte, denn im Haus hatte es untertags nur selten einen ruhigen Ort gegeben.
Zu diesem Garten sehnte sich die junge Frau, als sie mit ihren Verwandten, den Nachbarn und Freunden in der unteren Wohnung zusammensaß. Es wurde nur Gutes über die Toten gesprochen, dennoch tat Diana der Trubel weh, der um sie herum herrschte. Nur mit Mühe und Not schaffte sie es, eine Tasse Tee zu trinken. Die Kuchen- und Gebäckstücke, die auf Tellern bereitlagen, rührte sie nicht an.
"Bitte entschuldigt mich", bat sie, stellte ihre Teetasse auf einem der Tische ab und verließ den Salon. Sie flüchtete aus der Wohnung ihrer Verwandten die Treppe hinauf. Auf dem oberen Absatz der Treppe blieb sie zögernd stehen. Sie hatte die Wohnung ihrer Eltern seit zwei Tagen nicht mehr betreten. Die letzten Nächte hatte sie im Zimmer ihrer drei jüngeren Cousinen geschlafen.
In der Wohnung war es still, totenstill. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, fühlte sie sich in einer anderen Welt. Es erschien ihr unwirklich, daß sie in diesen nun so stillen Räumen groß geworden war.
Sie warf einen Blick in die Wohnstube, auf die ihre Mutter so stolz gewesen war. Die Chaiselongue, die Polster der Stühle und des Schaukelstuhls hatten ihre Eltern selbst bezogen. Sie fuhr sanft über die Lehne der Chaiselongue. Unter ihren Fingern spürte sie die Stelle, die von ihrer Mutter gestopft worden war, nachdem ihr Vater versehentlich mit der Glut seiner Pfeife ein Loch in den Bezug gebrannt hatte.
Die Betten im Zimmer ihrer Brüder waren gemacht, so, als würden John und Albert jeden Moment zurückkehren. Im Schlafzimmer der Eltern stand noch das Wasser in der Waschschüssel, mit dem ihre Mutter nach ihrem Tod gewaschen worden war. Sie trug die Schüssel in die Küche, leerte sie aus, trocknete sie ab und brachte sie ins Schlafzimmer zurück.
Als Abigail Coleman eine Stunde später nach oben kam, um nach ihrer Nichte zu sehen, saß Diana auf der Fensterbank in ihrem Zimmer und starrte in die Dunkelheit.
"Hier bist du also, Diana", sagte Abigail Coleman. "Du solltest nicht ohne Licht sitzen." Sie stellte die Petroleumlampe, die sie mitgebracht hatte, auf den Waschtisch. "Sie sind alle fort. Ich habe ihnen gesagt, du hättest dich ein wenig hingelegt und würdest dich morgen für ihre Aufmerksamkeiten bedanken."
Sie legte den Arm um die Schultern ihrer Nichte. "Es ist keiner unter ihnen gewesen, der nicht verstehen kann, wie sehr du der Ruhe bedarfst." Ein flüchtiges Lächeln umhuschte ihre Lippen. "Selbst Mrs. Baker, die an allem und jedem etwas auszusetzen hat, meinte, du würdest erst einmal einige Zeit für dich brauchen."
Diana wandte sich vom Fenster ab und stand auf. "Ich würde gern etwas mit dir und Onkel George besprechen, Tante Abigail." Sie blickte zum Bett ihrer Schwester. In Gedanken sah sie, wie Susan nach einem heftigen Streit mit den Eltern ihre Sachen packte. 'Mach dir um mich keine Gedanken, Diana', hatte sie gesagt. 'Ich werde dir schreiben.'
"Komm mit nach unten, Liebes." Ihre Tante griff nach der Petroleumlampe. "Mir ist es ohnehin wohler, wenn du nicht bei Dunkelheit allein hier oben bist."
Schweigend folgte Diana ihrer
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